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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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Anna unterdrückte den Drang, sich sofort aus dem beengenden Stoffgefängnis zu befreien, zog die Zeltbahn einen Fingerbreit auseinander und spähte hinaus.
    Nach der Stockfinsternis im Zelt erschien ihr die vom Halbmond beleuchtete Lichtung so hell wie eine von Scheinwerferlicht angestrahlte Bühne. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Bär wirklich fort war, kroch sie hinaus.
    Lange Zeit verharrte sie, von einem Zitteranfall geschüttelt, vor dem Zelt. Sie hätte gleichzeitig lachen und weinen können. Tiefes Durchatmen vertrieb die Hysterie. Anna kauerte auf den Fußballen und stützte die Fingerknöchel auf den Boden wie eine Läuferin vor dem Start. Dann drehte sie sich langsam um die eigene Achse und suchte mit Blicken den dunklen Wald ab, der näher zu kommen schien – sicher war er seit dem Schlafengehen herangerückt –, und spitzte lauschend die Ohren.
    »Die Luft ist rein«, verkündete sie, als sie nichts feststellen konnte. Ihre Stimme klang wie das klägliche Miauen eines Kätzchens. Also räusperte sie sich und wiederholte den Satz. Schon besser.
    »Hilf mir«, sagte Joan, gedämpft durch die Stoffmassen.
    Als Anna den Riss aufhielt, brauchte Joan nicht lange, um sich zu befreien, wie eine Raupe, die aus dem Kokon schlüpft.
    »Rory!«, riefen sie beide im Chor.
    »Taschenlampe«, befahl Anna, worauf Joan in dem Chaos nach ihrem Tagesrucksack kramte.
    »Rory!«, rief Anna noch einmal.
    Sein Zelt war noch stärker verwüstet als ihres. Im fahlen Mondlicht lag es da wie ein zerrissener und angebohrter Luftballon. Anna griff nach dem Nylon. »Rory!«, rief sie zum dritten Mal.
    Inzwischen hatte Joan die Taschenlampe gefunden. Doch Anna brauchte sie nicht, um zu wissen, dass Rory verschwunden war.

4
    Luke!«, schrie Joan den Namen ihres jüngeren Sohnes, der Rory Van Slyke so erstaunlich ähnelte. Sie ließ die Taschenlampe fallen, warf sich auf die Knie und begann, hektisch in dem eingestürzten Zelt zu kramen. Sie zerrte an seinem Rucksack und seinen Stiefeln, als handle es sich um abgerissene Körperteile. Ihr Mut und ihre Selbstbeherrschung, als nur ihr selbst Gefahr gedroht hatte, waren wie weggeblasen.
    »Joan«, sagte Anna und wiederholte dann ein wenig strenger: »Joan!« Doch die Forscherin war mit Worten nicht mehr zu erreichen. Also kämpfte Anna sich durch das Gewirr aus Stoff und Aluminium, ging in die Knie, packte Joan an den Schultern, hielt sie fest und drückte ihr die Arme an die Seiten. Kurz glaubte sie, dass Joan sich zur Wehr setzen würde. Doch die kräftige Berührung sorgte dafür, dass ihre Panik sich legte. Sie wollte aufstehen.
    »Sitzenbleiben«, befahl Anna.
    »Bestimmt hat der Bär ihn aus dem Zelt und in den Wald geschleppt«, meinte Joan. Sie klang zwar wie betäubt und fassungslos, aber nicht mehr hysterisch. Anna ließ ihre Schultern los, umklammerte jedoch weiter ihre Hände. Einander gegenüber kauerten sie auf Rorys Zelt.
    »Vielleicht auch nicht«, wandte Anna ein. Eigentlich hatte sie sich ruhig und vernünftig verhalten wollen, doch ihre Stimme zitterte, bebte und war hoch wie die eines Kindes. »Tun Bären so etwas?« Sie musste diese Frage stellen. Night of the Grizzlies oder nicht.
    »Nicht sehr oft«, erwiderte Joan. »Selten. Fast nie.« Sie wollte sich selbst beruhigen. Anna hinderte sie nicht daran.
    Ein rascher Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es erst in frühestens drei Stunden hell werden würde. Das Dämmerlicht auf der Lichtung, das ihr nach dem dunklen Inneren des Zeltes so strahlend erschienen war, konnte den dichten Wald nicht durchdringen. Wenn der Bär Rory wirklich in den Wald geschleppt hatte, um ihn aufzufressen, bestand die Wahrscheinlichkeit, dass der Junge lebte. Noch wahrscheinlicher war allerdings, dass das nicht lange so bleiben würde.
    Einen Bären bei Dunkelheit im Wald zu verfolgen – einen Grizzly, der bereits aus unerfindlichen Gründen wütend war und nun womöglich Futter in Form von Rory Van Slyke verteidigen musste – war purer Wahnsinn. Falls der Bär den Jungen tatsächlich in seiner Gewalt hatte, würden sie seine angefressene Leiche, wenn überhaupt, vermutlich in einem hastig gescharrten, flachen Grab finden.
    Sich nicht auf die Suche nach Rory zu machen war eine der schwersten Entscheidungen, die Anna je getroffen hatte. Denn wenn er noch lebte und sie ihn aufspürten, bestand die Chance – und es gab immer eine Chance –, dass sie es schaffen würden, das Raubtier zu verscheuchen, bevor es ihn tötete.
    Es

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