Blutköder
Arm.«
Anna blickte auf ihre rechte Schulter hinunter und erinnerte sich an den Schmerz, der durch das Zelt gefahren war. Im fahlen Licht des untergehenden Mondes war auf dem hellen Ärmel des grauen Rollkragenpullis, in dem Anna geschlafen hatte, nur ein schwarzer Fleck zu sehen. Seitdem hatte sie nichts mehr gespürt. Offenbar zu viel Adrenalin im Körper. Nun, nachdem Joan sie darauf hingewiesen hatte, nahm sie ein Brennen wahr.
»Die Wunde ist nicht tief«, erwiderte Anna.
»Nur ein Kratzer?« Joans Lachen besserte Annas Stimmung noch mehr als der heiße Tee.
In die Rolle der Krankenschwester schlüpfen zu können vertrieb die Ängste der Forscherin. Sie suchte die Taschenlampe und beleuchtete Annas Arm. Der Stoff hatte ein Loch, und es blutete ein wenig. Joan stellte die Taschenlampe so auf den Felsen, dass der Strahl auf Anna gerichtet war. »Darf ich?«, fragte sie und berührte den Ärmel.
»Nur zu.«
Joan riss den Ärmel über der Wunde auf. »Danke. So etwas wollte ich schon immer mal tun. Es ist so dramatisch.«
Mit warmem Wasser vom Campingkocher reinigte sie den »Kratzer«. Anna beobachtete sie erstaunlich unbeteiligt. Die Ereignisse der Nacht hatten in ihr ein abwesendes und unwirkliches Gefühl ausgelöst. Wie bei einem Schock, hielt sie sich warnend vor Augen und trank noch einen Schluck heißen, süßen Tee.
»Du hast recht«, meinte Joan. »Es ist nicht schlimm.«
Nachdem das Blut weggewaschen war, erkannte Anna, dass die oberflächliche Wunde eine Länge von etwa zehn Zentimetern hatte. Nur ein Riss, mehr nicht.
Gehorsam nahm sie die Tasse in die linke Hand und ließ Joan die Verletzung mit Wasserstoffperoxid desinfizieren, mit einer antibiotikumhaltigen Salbe behandeln und verbinden. Das war notwendig, da es sich bei Bärenkrallen sicher nicht um sterilisierte Waffen handelte. Dennoch hätte Anna vermutlich nichts unternommen, wenn sie allein gewesen wäre. Teilnahmslosigkeit. Ein weiteres Schocksymptom, das verzögert eintrat. Seltsam. Anna trank weiter Tee.
»Seit einundzwanzig Jahren erforsche ich jetzt schon Bären«, sagte Joan, während sie das Verbandszeug wegräumte. »Seit meinem Abschluss an der University of Minnesota. Schwarzbären, Braunbären, Eisbären, Kodiakbären. Ich habe sogar einmal einen Koalabären gestreichelt, obwohl Koalas einer anderen Art angehören. Aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Der Bär hat sich verhalten, als hätte er einen psychotischen Schub erlitten.«
Jeden Tag verloren unzählige Menschen den Verstand. Überall auf der Welt baute man Einrichtungen, um sie unterzubringen. Doch Tiere wurden nicht geisteskrank. Das verstieß gegen die Gesetze der Natur. Und das Widernatürliche war beängstigender als Mord, Blutvergießen, Überschwemmungen oder Hungersnöte.
Anna trank Tee. Die beiden Frauen saßen Schulter an Schulter da, sodass sie sich beinahe berührten, und starrten über die Fußenden ihrer Schlafsäcke hinweg auf die zerdrückten, zerfetzten Zelte.
»Können Bären eigentlich Tollwut kriegen?«, erkundigte sich Anna, die sich plötzlich um einiges mehr für ihre Verletzung interessierte. Im Guadalupe Mountains National Park hatte sie einmal mit einem tollwütigen Stinktier zu tun gehabt. In Mississippi hatte sie ein infiziertes Stachelschwein töten müssen. Mit elf war sie Zeugin geworden, als ihr Dad einen tollwütigen Hund erschossen hatte, einen Airedale, der ihr als Kind fast so groß erschienen war wie ein Kamel. Die Tollwut machte ein Tier krank, bis es bösartig wurde. Die in Filmen dargestellten blutrünstigen, nach Menschenfleisch gierenden Ungeheuer waren zwar zum Großteil ein Mythos, doch ein Tier, das sich ansteckte, litt so sehr, dass es darüber außer sich geriet.
»Eine gute Frage«, meinte Joan. »Ich wüsste nicht, was dagegenspräche. Ihr Nervensystem unterscheidet sich nicht sehr von dem eines Hundes oder eines Menschen. Allerdings überprüfen wir das bei jedem Bärenangriff, und es ist meines Wissens noch nie vorgekommen. Vermutlich liegt das an ihrer Größe. Fledermäuse, Hunde und Stinktiere beißen keine Bären.«
»Außerdem hörte sich der Bär trittsicher an«, fügte Anna hinzu. Sie dachte an den torkelnden Gang von Tieren, bei denen die Erkrankung so weit fortgeschritten war, dass sie eigenartige Verhaltensmuster zeigten.
»Hat er dich gebissen oder gekratzt?«, hakte Joan plötzlich nach.
»Ich habe mich schon gefragt, wann dir das einfällt«, erwiderte Anna. »Keine Ahnung.«
»Darf ich dich
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