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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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Information auch wirklich bei ihm ankam.
    »Hurra«, rief er. »Hurra, hurra, hurra.« Dann schlang er die sonnenverbrannten Arme um seine Brust, die gerade erst anfing, männlich breit zu werden. Als er sich hin und her wiegte, musste Anna an den Zeichentrickhund denken, den sie in ihrer Kindheit gerngehabt hatte. Precious. Wenn Precious einen Hundekuchen bekam, umarmte er sich und erhob sich in die Luft. Rory sah genauso aus.
    Nachdem er wieder auf dem Boden angelangt war, redete er wie ein Wasserfall. »Ich dachte, ihr wärt tot. Du und Joan. Ich habe das Knurren gehört. Ich bin zurückgekommen, Ehrenwort, wirklich. Aber der Bär war riesig. Riesengroß war er. Wie ein Eisbär. Also dachte ich … ich wusste, dass ich Hilfe holen musste …«
    »Immer mit der Ruhe, mein Junge. Dafür ist auch noch später Zeit. Der ganze Park hat fast zwei Tage lang nach dir gesucht. Viele Leute werden sehr froh sein, dich zu sehen.« Harry klang nicht wie einer dieser frohen Menschen, sondern eher brüsk und übellaunig. Anna stellte fest, dass die beiden Wanderer, die für ihre heldenhafte Rolle in dieser Geschichte noch keinen wirklichen Dank erhalten hatten, einen missbilligenden Blick wechselten.
    Vielleicht war Harry ja ein herzloser Mistkerl. Allerdings glaubte Anna das nicht. Zumindest nicht ganz und gar. Sie verstand, dass es kein Zuckerschlecken war, eine Führungsposition zu bekleiden. Harrys Arbeit war noch nicht getan. So glücklich er auch darüber sein mochte, dass Van Slyke noch lebte, würde er nun neue Vorkehrungen treffen müssen.
    Zu den weniger menschenfreundlichen Seiten der Führungsriege der Nationalen Parkaufsicht gehörte die tief verwurzelte Auffassung, die nahezu jeder Ranger insgeheim im Herzen trug: Man musste schon arg verblödet oder ein blutiger Anfänger sein, um sich zu verirren. Einige Vertreter der reinen Lehre äußerten sogar die Ansicht, das Geld und die Arbeitsstunden, um diese Leute wieder aufzuspüren, wären an anderer Stelle besser angelegt gewesen. Anna hätte die radikale Idee einer Wildnis ohne Rettungsaktionen befürwortet, wenn sie diese Tätigkeit nicht als so persönlich befriedigend empfunden hätte. Aufgeklärtes Eigeninteresse. Wenn Konzerne und Behörden Egoismus auf diese Weise umdeuten konnten, durfte niemand einen Normalbürger daran hindern, es ebenfalls mit dieser Taktik zu versuchen.
    »Anna«, riss Harry sie aus ihren Gedanken. »Haben Sie eine Erste-Hilfe-Ausbildung?«
    »Ja.«
    »Dann tun Sie Ihre Pflicht.« Er wies mit dem Kopf auf Rory. Während Anna den Jungen ein Stück abseits führte, hörte sie, wie Ruick auf Politikermodus umschaltete und die richtigen Worte für die Wanderer fand. Früher, in einer nicht sehr fernen Vergangenheit, hätte sie die Augen verdreht und kurz das Gefühl der Überlegenheit genossen. Aber das war einmal. Seit sie selbst eine Leitungsfunktion innehatte, war ihr deutlich bewusst, dass man auf einem Posten wie diesem unbedingt auch taktieren können musste. Deshalb war es ein Genuss, ein paar Tage lang ein Niemand zu sein.
    Sie wies Rory an, sich auf einen Baumstumpf zu setzen, und kramte das Verbandszeug heraus. Während er ihr seine Abenteuer schilderte, führte sie die Standarduntersuchungen durch.
    »Ich bin aus meinem Zelt gekrochen und ein Stück in den Wald hinter dem großen Felsen gegangen. Offenbar habe ich irgendetwas nicht vertragen, und es konnte nicht bis zum Morgen warten … Verstehst du, was ich meine?«
    Er sah Anna an, als brauche er eine Bestätigung, dass Durchfall ein hinreichender Grund war, um mitten in der Nacht sein Zelt zu verlassen.
    »Ich verstehe«, erwiderte sie freundlich.
    »Deshalb war ich eine Weile da draußen und habe Geräusche gehört. Ich habe ziemliche Angst gekriegt. Aber … äh … ich war noch nicht fertig. Meine Innereien …«
    »Was genau hast du gehört?«, unterbrach Anna, die nicht das Bedürfnis hatte, mehr über Rory Van Slykes Innereien zu erfahren.
    Zunächst antwortete er nicht, sondern beobachtete mit zufriedener Miene, wie Anna die Blutdruckmanschette um seinen Oberarm wickelte. Wie Anna vermutete, empfand er die Segnungen der modernen Medizin und Zivilisation als beruhigend. Offenbar war er in dem Glauben groß geworden, dass Dinge wie diese ihn vor Ungeheuern schützen konnten.
    Sie pumpte die Manschette auf, und er wandte, plötzlich ängstlich, den Blick ab, als hätte sie ihm eine Nadel in die Vene gebohrt. »Was hast du gehört?«, wiederholte sie.
    »Tiere, glaube ich.

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