Blutköder
Berges aufgegangen, wurde das Lager abgebaut, und man packte die Ausrüstung zusammen. Joan und das restliche Bärenteam brachen nach Südosten auf, um den Landeplatz für den Helikopter zu markieren. Ihre traurige Last lag bäuchlings über dem Sattel eines Pferdes wie die Trophäe eines Scharfschützen. Da sie helles Sonnenlicht brauchten, um den von Unterholz überwucherten Tatort gründlich abzusuchen, beschlossen Anna und Harry, zuerst zum West Flattop Trail zu marschieren.
Die Frau war nach ihrem Tod verstümmelt worden. Die präzisen Schnitte im Gesicht mit einem Messer oder einem Beil anzubringen, hatte etwa zehn bis fünfzehn Minuten gedauert. Vielleicht auch mehr, wenn man bedachte, dass das abgetrennte Gewebe vom Tatort entfernt worden war. Jemanden zu zerstückeln war eine Tätigkeit, bei der man nicht gestört werden wollte. Deshalb war die Leiche vom Pfad weggeschleppt worden, was die Schleifspuren bewiesen. Diese These wurde dadurch bestätigt, dass der Körper keine Kratzer und Abschürfungen aufwies, die sich eine gesunde und lebendige Frau zugezogen hätte, wäre sie gewaltsam durch dichtes Erlendickicht getrieben worden.
Wenn der Mord sich in einiger Entfernung zum Pfad zugetragen hätte, hätte der Täter alle Zeit der Welt gehabt, sein Opfer in Seelenruhe zu verstümmeln, und sich die Mühe sparen können, die Tote zu bewegen. Also musste die Tat nach den Gesetzen der Logik auf dem West Flattop Trail oder ganz in der Nähe und außerdem unweit der Fundstelle begangen worden sein. Da im August im Park Hochsaison herrschte, war dem Mörder sicher viel daran gelegen gewesen, die Leiche so schnell wie möglich verschwinden zu lassen.
Mit Ausnahme des kleinen Grünstreifens, der an den Pfad oberhalb der Fundstelle angrenzte, war die Landschaft zu beiden Seiten des West Flattop Trail verbrannt. Es war anzunehmen, dass sich der Mord im verbrannten Gebiet ereignet hatte, das dem Täter keinen oder kaum Sichtschutz bot. Deshalb hatte er sein Opfer weggetragen, bis er auf eine Möglichkeit gestoßen war, es im Gebüsch zu verstecken.
Anna und Harry gingen zehn bis fünfzehn Meter seitlich des Pfades nebeneinander her und suchten nach der Stelle, wo das Verbrechen seinen Anfang genommen haben könnte. Etwa einen Dreiviertelkilometer später stießen sie auf einen Rucksack, der vermutlich dem Opfer gehört hatte. Er lag etwa fünfzehn Meter vom Rand entfernt im verbrannten Gebiet und war unter einem umgestürzten Baum versteckt. Jemand hatte hastig verkohltes Holz und Asche darübergescharrt. Wäre der Regen vom Vortag nicht gewesen, der Boden hier hätte sich ausgezeichnet zum Spurenlesen geeignet. Doch alle möglicherweise vorhandenen Fußabdrücke waren zu formlosen Dellen ausgewaschen, die ihr Geheimnis bewahren würden.
Anna stand, das Notizbuch in der Hand, parat, während Harry Rucksack und Baumstamm mit einer anderen Fünfunddreißig-Millimeter-Kamera als der von gestern Abend fotografierte. Diese hier war mit dem Helikopter gebracht worden, die andere stammte aus seinem Privatbesitz. Eigentlich war er wegen einer Such- und Rettungsaktion ins Hochland gekommen, nicht um einen Mord aufzuklären.
Nach dem Fotografieren maßen er und Anna alles gründlich ab, damit man die genaue Lage und Position des Rucksacks nötigenfalls später auf Papier nachvollziehen konnte. Anschließend zog Ruick Latexhandschuhe an, entfernte sorgfältig den Schutt vom Rucksack und holte ihn aus seinem Versteck. Er behandelte ihn so, als wolle er keine Fingerabdrücke verwischen. Allerdings war das nur Formsache und seiner Ausbildung geschuldet. Auf dem fleckigen grauen, vom Regen durchweichten und rußigen Segeltuch hatten sich sicher keine Spuren gehalten.
An der Art, wie der Rucksack über den Boden holperte, erkannte Anna, dass er etwas Schweres enthielt. Harry öffnete den Reißverschluss der Vordertasche. »Moskitomittel, Papiertaschentücher, topo … vorsichtige Frau. Hatte gleich zwei topografische Karten dabei.«
»Nicht vorsichtig genug«, merkte Anna an, während sie die entnommenen Gegenstände notierte.
»Nein, offenbar nicht. Schauen wir mal, was wir sonst noch haben.« Er zog den Reißverschluss des Hauptabteils auf und förderte drei Kameras und vier Objektive zutage. »Eine Fotografin. Ich habe zwar nicht viel Ahnung von Kameras, vermute aber, dass die Sachen ziemlich teuer waren.«
»Also scheidet Raub aus«, stellte Anna fest. Raub war ohnehin kein Motiv, das sie je ernsthaft in Erwägung gezogen
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