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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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Angeblich wolle er Hilfe für zwei Frauen holen, die von einem riesigen Bären angegriffen worden seien. Abgesehen von einem schweren Sonnenbrand auf Brust und Schultern sei er offenbar unverletzt. Die Wanderer versprachen, bis zur Ankunft eines Rangers bei ihm zu bleiben.
    Daraufhin funkte Harry den Rest des Suchtrupps an, um die Aktion abzublasen. Nach einer Nacht mit einem tobenden Bären, einem regnerischen Tag und einer verstümmelten Leiche war Anna gar nicht klar gewesen, wie ausgehungert sie – und alle anderen – nach guten Nachrichten waren. Die Mitglieder des Suchtrupps lachten und jubelten am Funk, und keiner konnte sich einen Scherz oder Witz oder eine schlagfertige Bemerkung verkneifen. Ruick ließ ihnen exakt zwei Minuten, um ihre gute Laune auf Kosten der Funkdisziplin auszuleben. Anna beobachtete, dass er währenddessen auf die Uhr sah und mitzählte. Dann machte er dem Treiben mit einigen Befehlen ein Ende.
    Da er und Anna der Stelle, wo Rory mit seinen Rettern wartete, am nächsten waren, würden sie querfeldein vom West Flattop Trail, vorbei am Fifty Mountain Camp, zum Flattop Trail marschieren, um ihren vermissten Earthwatcher einzusammeln. Unterdessen sollten Joan und Gary zum Fifty Mountain Camp gehen und Mr und Mrs Van Slyke mitteilen, dass Rory gesund und munter war. Buck, der im Hinterland stationierte Ranger, den Anna noch nicht kannte, würde im Lager zu ihnen stoßen, um Ruick bei den Mordermittlungen zu unterstützen.
    Dass nur zwei Polizisten ein mehr als viertausend Quadratkilometer großes Gebiet durchkämmten, verschaffte dem Täter einen gewaltigen Vorsprung. Doch ihnen blieb nichts anderes übrig. Eine groß angelegte Suchaktion ergab erst dann Sinn, wenn sie die Identität des Mörders kannten. Ansonsten würde sie lediglich zu Panik und Unmut führen.
    Zu den Vorzügen des Aufenthalts in der Wildnis gehörte traditionell, dass man – zumindest in Amerika – keine gültigen Papiere haben musste. Wer zelten wollte, brauchte zwar eine Genehmigung, doch Wanderer konnten sich sogar das sparen. In der Wildnis legte man sich schlafen, wenn man müde war, stand auf, wenn man sich ausgeruht fühlte, und konnte, unbemerkt und unerkannt, nach Herzenslust umherstreifen. Selbst bei Besuchern, die sich eine Genehmigung besorgt hatten, war es unmöglich herauszufinden, wo sie sich gerade aufhielten. Obwohl es niemand zugeben wollte, war es bei einem Mord wie diesem sehr wahrscheinlich, dass dem Täter die Flucht gelang. Falls er oder sie – denn eine Frau war ebenso wie ein Mann in der Lage, ein Huhn zu entbeinen oder einen Menschen zu filettieren – je festgenommen werden sollte, war vermutlich ebenso viel Glück wie gute Polizeiarbeit im Spiel.
    Der Querfeldeinmarsch war nur einen Dreiviertelkilometer lang. Allerdings ging es die ganze Zeit bergauf. Sie erreichten den Flattop Trail, wo er parallel zum West Flattop Trail verlief, und kamen auf dem befestigten Pfad rasch voran, sodass sie das wartende Dreiergrüppchen kurz nach zwei Uhr erreichten. Seit dem Funkspruch, der gemeldet hatte, Rory sei gefunden worden, war nur eine gute Stunde vergangen.
    An dem Tag, den Anna mit dem jungen Earthwatcher verbracht hatte, hatte er keinen sehr emotionalen Eindruck auf sie gemacht. Doch als er sie nun nach dem Polizeichef hinter einigen Bäumen hervortreten sah, schien er buchstäblich aufzuleuchten. Um seine stumpf zu Boden blickenden Augen bildeten sich Lachfältchen, und sie begannen zu strahlen. In seinem Gesicht, bis jetzt so schlaff, dass es beinahe dümmlich wirkte, erschien ein jungenhaftes Lächeln, das sich rasch zu einem Lachen auswuchs. Kurz dachte Anna, er würde auf sie zulaufen, um sie zu umarmen, und machte sich innerlich schon darauf gefasst. Dann jedoch flackerte das Licht auf und verlosch allmählich. Rorys Bewegungen gerieten ins Stocken wie bei einem Roboter nach einem Stromausfall. Anna wurde klar, dass er sich zwar über ihren Anblick freute, die Begeisterung jedoch der Person vorbehalten war, mit deren Erscheinen er eigentlich gerechnet hatte.
    Sobald Anna das begriff, tat sie ihr Bestes, um die Befürchtungen des Jungen zu zerstreuen. »Joan geht es gut«, verkündete sie rasch. Dabei sprach sie übertrieben laut, um den Nebel des Schocks zu durchdringen, der sich über ihn gelegt hatte. »Uns beiden ist nichts passiert. Joan ist zum Fifty Mountain Camp gegangen, um deinen Eltern zu sagen, dass du okay bist. Joan geht es gut«, wiederholte sie, damit diese wichtige

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