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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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das Ihrer Ansicht nach vom medizinischen Standpunkt her einen Unterschied?«
    »Es spielt eigentlich keine Rolle«, entgegnete Anna.
    Rory saß auf seinem Baumstumpf und blickte zwischen den beiden hin und her. Offenbar war er es gewohnt, dass man ihn in der dritten Person erörterte, während er sich im Raum befand. Erst als Harry weiterredete, erwachte er zum Leben. »Wir fliegen dich aus, Rory. Da wir den Helikopter bis Sonnenuntergang zur Verfügung haben, können wir ihn genauso gut benutzen.«
    »Ich möchte nicht ausgeflogen werden«, protestierte Rory, dem diese Aussicht gar nicht zu gefallen schien.
    Ruick sah ihn an, beherrschte seine gereizte Miene und wechselte von Logistik zu Öffentlichkeitsarbeit. Er kauerte sich auf die Fersen, um nicht von oben herab mit dem Jungen zu sprechen. »Du warst lange allein im Wald, Rory«, erklärte er. »Sechsunddreißig Stunden sind kein Pappenstiel. Deine Füße sind aufgescheuert, du hast nichts gegessen und einen schweren Sonnenbrand, du bist ausgetrocknet …«
    »Ich habe Wasser getrunken«, widersprach Rory. Er hob die Hightech-Wasserflasche mit dem eingebauten Filter hoch, die Anna so bewundert hatte, und schüttelte sie, um seine Worte zu untermauern.
    »Du musst trotzdem zu einem Arzt«, wandte Ruick ruhig ein. »Deine Füße …«
    »Ich habe nur eine einzige Schnittwunde, und Anna sagt, die wäre nicht so schlimm. Ich bin mit schlimmeren Verletzungen dreizehn Kilometer lange Rennen gelaufen. Es ist wirklich nichts.« Rory steigerte sich in seinen Widerstand hinein. Seine Reaktion erschien Anna übertrieben. Schließlich drohte ihm nichts Schlimmeres als ein kostenloser Helikopterflug und ein oder zwei Nächte in einem bequemen Bett.
    Ruicks ärgerlicher Gesichtsausdruck kehrte zurück. Offenbar war er Ungehorsam nicht gewöhnt. Vielleicht hatte er ja keine Kinder. Das traf zwar auch auf Anna zu, doch sie hatte den ersten Frühling in Mississippi im Kreis der Schüler der Clinton Highschool verbracht. »Ungehorsam« drückte es noch milde aus.
    »Du musst ins Tal, mein Junge«, beharrte Ruick, um eine väterlich-gütige Art bemüht, die ihm beinahe gelang.
    »Nein, muss ich nicht«, beteuerte Rory. Es erstaunte Anna, dass jemand, der einem Polizeichef Widerworte gab, sich von einem einfachen Grizzlybären ins Bockshorn jagen ließ. Das bedeutete jedoch nicht, dass Rory keine Angst vor Ruick gehabt hätte. Er fürchtete sich, das merkte sie am Flackern in seinen Augen und am leichten Zittern seiner Mundwinkel. Allerdings erkannte sie auch, dass er nicht die Absicht hatte nachzugeben.
    Sie lässt sich von niemandem irgendwelchen Mist gefallen. Wie Anna sich erinnerte, hatte er das über seine Stiefmutter gesagt, als sei es das höchste Lob, das er aussprechen konnte. Rory hatte größere Angst davor, er könnte sich etwas gefallen lassen, als ihm klar war. Sie überstieg sogar die Furcht vor dem, was der Polizeichef ihm antun konnte, wenn es ihm in den Kram passte. Und das war eine ganze Menge wie zum Beispiel, ihn aus dem DNA -Projekt auszuschließen und ihm den Zutritt zum Park zu verwehren, falls er ihn als Gefahr für sich selbst, andere oder die Natur einstufte.
    Was mochte in einem Jungen eine solche Protesthaltung auslösen? Und noch dazu gegenüber einem erwachsenen Mann, der Autorität besaß? Schließlich verbrachten Kinder ihre ersten zwanzig Lebensjahre damit, von Erwachsenen in Form von Unterweisung, Erziehung, Schimpftiraden, Ratschlägen, Druck, Ausbildung und Gardinenpredigten traktiert zu werden. Die Folge war, dass sie spätestens mit sechzehn die Kunst des passiven Widerstands meisterhaft beherrschten. Anna fragte sich, was Rorys Eltern, insbesondere sein Vater, den er abfällig »Les« nannte, getan haben mochten, um diese natürliche Entwicklung aufzuhalten.
    Ruick erhob sich mit einem Seufzer und sah sich eine Weile um. Als sein Blick auf Anna fiel, beschloss er, zu delegieren. »Sie kümmern sich darum«, sagte er und marschierte davon.
    Anna und Rory schauten ihm nach. Da sie sich plötzlich erschöpft fühlte, setzte sie sich neben Rory auf einen Baumstamm. »Warum sträubst du dich so dagegen, ins Tal zu fliegen, zum Arzt zu gehen und dich ein bisschen auszuruhen?«, erkundigte sie sich.
    Rory brauchte nur wenige Sekunden, um von trotzig auf schmollend umzuschalten. »Ich bin nicht verletzt«, erwiderte er. »Mir fehlt nichts. Ich bin hier, um an dem Bärenprojekt zu arbeiten. Wir müssen noch weitere Fallen aufbauen, oder? Ich sehe

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