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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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Du weißt schon, nur kleine, es hätte auch etwas anderes sein können. Vielleicht Mäuse, Kaninchen oder Kojoten. Mir ist klar, dass man viel Krach machen soll, wenn man in den Wald geht, um die Bären zu verscheuchen. Das hat Joan mir erklärt. Ich hatte es auch nicht vergessen. Doch ihr habt geschlafen und so …«
    »Schon gut«, meinte Anna. »Im Umkreis eines Lagerplatzes macht niemand Krach. Normalerweise reicht die Tatsache, dass wir da sind und nach Mensch stinken, damit die Bären uns aus dem Weg gehen.«
    »Jedenfalls glaube ich nicht, dass das, was ich zu Anfang bemerkt habe, der Bär war. Möglicherweise schon, aber ich denke, eher nicht. Dann war da plötzlich etwas, das wie Schritte klang. Ich bin ziemlich erschrocken. Inzwischen war ich … äh … fertig …«
    Darauf wäre Anna jede Wette eingegangen. Wahrscheinlich hatte sich beim Herannahen des Grizzlybären jeder Schließmuskel in seinem Körper zusammengezogen.
    »Vielleicht hätte ich schreien sollen«, fuhr er fort. »Ich hätte ihn damit verjagen können.«
    Vielleicht. Doch ehe Anna ihn deshalb verurteilen konnte, fiel ihr ein, dass sie und Joan während des Überfalls auch nicht geschrien hatten. Wenn sie gebrüllt hätten wie die Wahnsinnigen, wäre der Bär sicher geflohen. Aber ihre Instinkte hatten ihnen geraten, sich still zusammenzukauern, und sie mit der Gewissheit erfüllt, dass sich unsichtbar zu machen und sich tot zu stellen ihre einzige Rettung war.
    »Schritte?«, hakte Anna nach. Das Wort erschien ihr nicht als der richtige Ausdruck für das Tapsen eines großen Allesfressers durch dichten Farn.
    »Nein, es klang nur wie Schritte«, verbesserte sich Rory. »Zu Anfang. Dann jedoch hat er etwas zerbrochen, einen Zweig oder so, und ich habe ein Knurren gehört. Ich war schon oft im Zoo, und ich habe den Film The Bear gesehen. Allerdings dachte ich immer, dass sie Geräuscheffekte mischen, um es zu erzeugen – Löwengebrüll und Züge oder etwas Ähnliches. So, wie sie Geräusche gemischt haben, damit der Tarzanschrei laut genug wird. Deshalb kriegen kleine Kinder ihn auch nicht richtig hin.«
    Anna wandte sich ab und tat, als müsse sie die Blutdruckmanschette in ihrem Plastikbehälter verstauen, damit er ihr Schmunzeln nicht sah. Die Vorstellung, wie ein magerer, kleiner Rory Van Slyke sich auf die knochige Brust schlug und im Garten eine imaginäre Elefantenherde herbeirief, war zu komisch.
    »Aber offenbar brauchten sie das Geräusch nicht zu fälschen«, fuhr er fort. »Dieses Brüllen war das Schrecklichste überhaupt. Der Bär war riesig. Ich konnte hören, wie er die Zelte zerriss. Da dachte ich, ich hole besser Hilfe.«
    Die Szene stand Anna deutlich vor Augen: Ein verängstigter Junge in Jogginganzug und Stoffschuhen, allein in der Nacht, während alle Schrecken, die er sich in den beiden Tagen in der Wildnis – und vermutlich schon lange vor seiner Ankunft – ausgemalt hatte, in der Dunkelheit Gestalt annahmen. Der Albtraum war mit Fell, Klauen und dem »schrecklichsten Gebrüll überhaupt« Wirklichkeit geworden. Rory war in Panik geraten, hatte sich blind und ohne nachzudenken umgedreht und war in den Wald gerannt. Darauf wäre Anna jede Wette eingegangen. Sie machte ihm das nicht zum Vorwurf. Wahrscheinlich hätte sie selbst diesen Weg gewählt, wenn sich die Möglichkeit dazu ergeben hätte. Falls es ihm gelang, sich weiter vorzumachen, dass er hatte Hilfe holen wollen, würde er das Erlebnis verkraften. Ansonsten würde das schreckliche Gefühl, ein Feigling zu sein, eine Narbe auf seiner Seele hinterlassen.
    Anna war nicht sicher, ob sie etwas für ihn tun konnte. Doch sie nahm sich vor, mit Joan darüber zu sprechen. Als Mutter von zwei Söhnen hatte sie in diesen Dingen sicher Erfahrung.
    »Für jemanden, der sechsunddreißig Stunden ohne Essen im Freien verbracht hat, bist du noch gut in Form«, meinte sie zu ihm.
    »Die beiden Wanderer haben mir Obst und Müsliriegel gegeben«, erwiderte er. »Sie hätten mich ihre ganzen Vorräte vertilgen lassen, und das hätte ich auch sicher geschafft. Aber das wäre unhöflich gewesen.«
    »Wir erstatten ihnen den Verlust«, versprach Anna. »Und dir beschaffen wir eine ordentliche Mahlzeit. Zeig mir deine Füße.« Als sie sich vor ihn kauerte, hob er den Fuß wie ein gehorsames Kind im Schuhgeschäft.
    Die chinesischen Stoffschuhe waren bemerkenswert solide. Sie waren zwar so verzogen und verbeult, dass sie inzwischen mehr einem aufgewühlten Baseballfeld nach dem

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