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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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hatte. Räuber schnappten sich ihre Beute und machten sich aus dem Staub. Sie verschleppten keine Leichen und verstümmelten ihnen auch nicht das Gesicht. Welchen Grund konnte es überhaupt dafür geben? »Vielleicht wollte er verhindern, dass sie identifiziert wird«, sagte sie und sah wieder das Auge vor sich, das ihnen aus der blutigen Masse entgegenstarrte.
    »In diesem Fall hat er nicht sehr gründliche Arbeit geleistet. Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, doch ich würde jemanden, der mir lieb und teuer ist, auch mit halbem Gesicht erkennen. Dazu gehört nicht viel.«
    Das war richtig. Außerdem war es dank Zahnstellung, Fingerabdrücken, ärztlichen Unterlagen und DNA nahezu unmöglich, die Identität einer Leiche für immer zu verschleiern. Außer, es handelte sich bei dem Toten um jemanden, für den sich schon seit Langem niemand mehr interessierte. Und nach den Kameras zu urteilen, war diese Frau finanziell zu gut gestellt gewesen, um überhaupt keine Freunde zu haben.
    »In keiner der Kameras ist ein Film«, verkündete Harry nach kurzer Untersuchung und reichte Anna die Ausrüstung. Da Anna nun die Hände voll hatte, gab sie die Rolle der Sekretärin auf. Ruick griff in den Rucksack und holte vier unangebrochene und drei leere Filmschachteln heraus. »Kein belichteter Film«, meinte er. »Anscheinend befinden sich diese Schachteln schon seit einer Weile im Rucksack. Ich vermute, dass sie noch unterwegs zu der Stelle war, wo sie fotografieren wollte, als sie ermordet wurde.«
    »Oder sie hat etwas fotografiert, das der Täter der Nachwelt lieber vorenthalten wollte«, ergänzte Anna.
    Der Polizeichef warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Guter Einwand«, sagte er. Wieder hatte sie das seltsame Gefühl, dass er sie erst jetzt wahrnahm. Es war, als existierten seine Untergebenen für ihn nur als namenlose Zahnräder in einer grüngrauen Maschinerie. Als fähiger Mann sorgte Ruick dafür, dass diese Maschinerie stets sauber und vollgetankt war und regelmäßig gewartet wurde, rechnete aber nicht damit, dass die beweglichen Teile irgendeine Form von Initiative zeigten, die über ihre angestammte Funktion hinausging.
    Nacheinander nahm er Anna Kameras und Objektive ab und verstaute sie wieder im Rucksack. Weitere zehn Minuten verbrachte er damit, den Boden rings um den Baumstamm zu untersuchen. »Diese Goldader ist erschöpft«, verkündete er schließlich. Sie machten sich wieder auf den Weg.
    In den nächsten beiden Stunden durchkämmten sie die östliche und westliche Seite des Pfades, stießen jedoch weder auf Spuren der Frau noch auf Hinweise auf ihren Mörder oder das Motiv. Als die Sonne strahlend und hoch am Himmel stand, kehrten sie zum Fundort zurück und sahen sich auf dem Weg nach unten in der näheren Umgebung der Lichtung um. Wieder ohne Ergebnis. Falls das von ihrem Gesicht abgeschnittene Stück Fleisch ins Gebüsch geworfen worden war, hatte ein Tier es sich geholt und aufgefressen. So grausig diese Vorstellung auch sein mochte, war sie Anna lieber als der Gedanke, dass der Mörder das Menschenfleisch vielleicht zu Erdnussbutter, Schweinebraten und Bohnen in seinen Proviantbeutel gepackt hatte. Weitere Abmessungen wurden vorgenommen und Notizen gemacht, und Anna fertigte eine Zeichnung des Fundorts an. Allerdings war dieser so von ineinander verschlungenen Zweigen und totem Laub bedeckt, dass die Zeichnung, obwohl recht gelungen, eher wie sinnloses Gekritzel aussah.
    Nachdem alles erledigt war, marschierten sie nach Osten in Richtung Fifty Mountain Camp. Angesichts der unheimlichen Ereignisse seit Van Slykes Verschwinden hielt es Harry für seine Pflicht, selbst mit den Eltern des vermissten Jungen zu sprechen.
    Viereinhalb Kilometer vor Fifty Mountain traf eine Meldung ein, die Rory betraf. Der Helikopter, der inzwischen seinen Dienst als Leichentransporter beendet hatte und sich nun an der Suche beteiligte, hatte sie einige Male überflogen. Allerdings kam der Funkspruch nicht von dort, sondern von der Zentrale im Städtchen West Glacier. Wanderer, die auf dem Flattop Trail nach Norden wollten und sich drei Kilometer weiter im Süden an der Kreuzung mit dem West Flattop Trail unweit des Fifty Mountain Camp befanden, hatten die Zentrale mit ihrem Mobiltelefon verständigt. Ihnen sei ein junger Mann mit nacktem Oberkörper und in Stoffschuhen begegnet, der einen ziemlich verzweifelten Eindruck mache. Er wisse zwar, dass sein Name Rory Van Slyke sei, schien aber ansonsten recht durcheinander.

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