Blutköder
Spiel als Fußbekleidung ähnelten, doch die Säume hatten gehalten. Die flachen Gummisohlen wiesen mehrere Löcher auf, waren allerdings nicht gebrochen.
»Die Dinger waren eindeutig ihre vier fünfundneunzig wert«, meinte Anna, während sie den über den Rist verlaufenden Riemen des rechten Schuhs löste und ihn abstreifte. Rorys Füße waren vom Marsch durch das staubige verbrannte Gebiet kohlschwarz. Bevor er sie nicht wusch, waren Schmutz und blaue Flecken nicht voneinander zu unterscheiden. Sie entdeckte eine Schnittwunde, die mit einem Riss in der Schuhsohle übereinstimmte, aber keine Wasserblasen.
Vorsichtig betastete sie erst den rechten, dann den linken Fuß. »Was ist passiert, nachdem du Hilfe holen gegangen bist?«, fragte sie. »Du bist mir noch fünfunddreißig Stunden Bericht schuldig.«
»Nicht viel«, antwortete er verunsichert. Anna konnte nicht feststellen, ob er ihr auswich oder ob die Stunden in seiner Erinnerung ineinander verschwammen. »Ich bin einfach gelaufen. Dann habe ich mich verirrt. Und schließlich bin ich auf diesem Weg gelandet und den Wanderern begegnet.« Seine Sprache war verwaschen und leise.
»Bist du gestürzt? Hast du dir den Kopf oder sonst etwas gestoßen?«
»Nein. Wie ich schon gesagt habe, ist alles bestens.«
Also steckte keine Kopfverletzung hinter der plötzlichen Gedächtnislücke. Er verschwieg ihr etwas, dachte Anna. Falls die Panik, auch nachdem er Abstand zwischen sich und den Bären gebracht hatte, geblieben war und er am Morgen weder versucht hatte, Hilfe zu holen noch zum Lager zurückzukehren, um nach Anna und Joan zu sehen, konnte er sich durchaus irgendwo versteckt haben, weshalb sein Schweigen Sinn ergab. Scham raubte einem besser das Gedächtnis als ein Schlag auf den Kopf. Im nächsten Moment hatte Anna das entstellte Gesicht der Toten vor sich, und ihr fiel ein anderer Grund für Rorys ausweichende Antwort ein. Vielleicht wollte er verschweigen, was genau in den anderthalb Tagen seines Verschwindens vorgefallen war, da es sein Geheimnis bleiben sollte. Ein Mord zum Beispiel.
Anna schnaubte, ein unterdrücktes Lachen, das ihr die Nase hinaufstieg. Rory war in Stoffschuhen und Schlafanzug losgerannt, überzeugt, dass ihm ein Bär auf den Fersen war. Dann sollte er zufällig einer fremden Frau begegnet sein, sie grundlos getötet, ihren Rucksack versteckt und eine scharfkantige Waffe gefunden haben? Und anschließend hatte er die Frau ins Gebüsch geschleppt und ihr das Gesicht aufgeschlitzt, ohne auch nur einen einzigen Blutstropfen abzubekommen? Selbst für Anna musste sich ein Verdacht zumindest auf einen Rest von Logik stützen.
»Gehst du viel barfuß?«, erkundigte sie sich. Rory hatte eine dicke, harte Hornhaut an den Fußsohlen, weshalb er sein Abenteuer besser überstanden hatte, als es den meisten Menschen gelungen wäre.
»Ziemlich oft«, erwiderte er. »Beim Querfeldeinrennen laufe ich häufig barfuß. Es treibt meinen Trainer in den Wahnsinn. Darum mache ich es nur im Training, nicht bei Wettkämpfen.«
Anna bestrich den Sonnenbrand mit Lidocain, um die Schmerzen zu lindern. Obwohl es inzwischen um die dreißig Grad waren, riet sie ihm, ein Hemd überzuziehen, damit die Sonne nicht noch mehr Schaden anrichten konnte.
»Ich habe mein Sweatshirt verloren«, sagte er, was wie eine Lüge klang.
Anna musterte ihn argwöhnisch. Es war immerhin sein Sweatshirt, weshalb er es nach Belieben verlieren, verbrennen oder an einen vorbeiziehenden Elch verschenken konnte. Warum also lügen? Dass er es offenbar für nötig hielt, die Unwahrheit zu sagen, weckte Annas Misstrauen. »Wie hast du es denn verloren?«
»Wahrscheinlich habe ich es fallen gelassen oder irgendwo vergessen oder so.«
Wieder wich er ihr aus. Log er wirklich? Vielleicht auch nicht. Vielleicht wusste er ja tatsächlich nicht mehr, wie er sein Sweatshirt verloren hatte, und die Gedächtnislücke machte ihm Angst. Vielleicht.
»So etwas passiert eben«, meinte Anna sachlich.
»Richtig.«
Der Polizeichef näherte sich der kleinen Klinik unter freiem Himmel. »Also. Wird er überleben?«
»In nächster Zeit schon«, erwiderte Anna und schilderte Ruick kurz Rorys leichte Beschwerden.
»Wir müssen schauen, wie wir ihn am besten ins Tal schaffen«, sagte Ruick, nachdem sie fertig war. »Entweder bringen wir ihn zum nächsten geeigneten Landeplatz, um ihn mit dem Helikopter auszufliegen, oder Gary oder Vic kommen mit den Packpferden und reiten den Südhang hinunter. Macht
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