Blutköder
beinahe mit ansehen, wie er die verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander abwog: Die Alternative, sich weiter mit dem Rucksack zu befassen, wurde aufgegeben. Der Versuch, sich in den Kreis zu zwängen, um Anna vorzustellen, wurde ebenfalls verworfen.
Schließlich hatte er seine Gedanken sortiert. Der Nebel lichtete sich, und Anna kam in den Genuss eines weiteren jungenhaften Lächelns à la Van Slyke. »Froh ist noch milde ausgedrückt«, erwiderte er. »Ich war außer mir vor Sorge. Dem Jungen hätte hier draußen alles Mögliche zustoßen können. Wirklich alles. Sie können es sich aussuchen. Und außerdem habe ich mich so hilflos gefühlt. Oh, mein Gott! Am liebsten hätte ich den Suchtrupp begleitet, aber wahrscheinlich bin ich in letzter Zeit ein wenig aus der Form geraten … tja …« Er verstummte verlegen und breitete mit einem leichten Achselzucken die Arme aus, um ihr seine eingesunkene Brust und das runde Bäuchlein zu zeigen.
Er war wirklich nicht gut in Form. An Bucks Stelle hätte Anna auch dafür gesorgt, dass Mr Van Slyke im Lager blieb. Er hatte etwa zehn Kilo Übergewicht, alles davon am Bauch. Seine Armmuskulatur spottete jeder Beschreibung, und seine Beine über dem Rand der nagelneuen Wanderstiefel waren blass und mager. Ganz offensichtlich kein erfahrener Naturbursche. Seine Unterarme waren von fast abgeheilten Blutergüssen grau verfärbt, und auch die wenigen Zentimeter Oberschenkel, die unter seinen Wandershorts hervorblitzten, wiesen Verletzungen auf. Einige waren alt, andere frisch und heftig gerötet. Sie fragte sich, ob er vielleicht unter einer gestörten Durchblutung der Haut litt, die zur Folge hatte, dass auch der kleinste blaue Fleck noch wochenlang zu sehen war.
»Und dann war doch noch die Sache mit Carolyn«, ergänzte er.
Anna streifte ihren Rucksack ab, setzte sich neben den, mit dem er sich vorhin beschäftigt hatte, und begann, ihre Stiefel aufzuschnüren. Sie waren zwar alt und trotz der schweren Profilsohle verhältnismäßig bequem, doch ihre Füße sehnten sich nach frischer Luft und ihre Zehen nach ungehinderter Bewegungsfreiheit.
»War seine Stiefmutter sehr in Angst um ihn?«, erkundigte sie sich höflichkeitshalber.
»Ich weiß nicht. Das heißt, das wäre sie sicher gewesen. Hat man es Ihnen nicht erzählt? Carolyn ist seit gestern Vormittag verschwunden.«
Das ließ Anna aufmerken, und sie hob den Kopf von ihren Schnürsenkeln. »Verschwunden?«
»Als ich aufgewacht bin, war sie weg. Da sie das öfter tut, habe ich mir nichts dabei gedacht. Aber sie ist noch nicht zurückgekommen.«
In Mr Van Slykes hellen, klaren Augen flackerte ein Gefühl auf. Kurz wirkte es wie Erleichterung, die im nächsten Moment von Besorgnis überdeckt wurde. Als seine Gesichtsmuskeln sich anspannten, trat eine dünne, alte, sauber verheilte Narbe, die quer über die Stirn und seitlich die Nase entlang verlief, weiß hervor.
»Normalerweise ist sie nicht so lange unterwegs. Nicht über Nacht. Zumindest nicht hier in der Wildnis. Wo sollte sie auch hingehen?«
»Haben Sie den Vorfall gemeldet?«, fragte Anna zögernd.
»Als sie mittags noch nicht wieder da war, habe ich es mit der Angst zu tun bekommen und es dem jungen Burschen erzählt. Dem Ranger, der uns die Nachricht überbrachte, dass Sie Rory gefunden haben. Ich habe schon gehofft, sie wäre mit Ihnen zusammen.«
»Nein, ist sie nicht«, meinte Anna. Im nächsten Moment wurde ihr klar, dass das möglicherweise nicht ganz stimmte. Sie musste mit Harry Ruick sprechen.
7
Anna schlich sich davon, um allein zu sein. Sie fühlte sich, als seien Monate vergangen, seit sie zuletzt frei vom Klang menschlicher Stimmen in den Ohren, vom Druck gesprochener Worte auf dem Verstand und von Blicken auf der Haut gewesen war. Selbst wenn keine Krise vorlag, hatte sie nach einem Tag in der Gesellschaft ihrer Artgenossen stets das Bedürfnis zu flüchten, um sich wieder zu sammeln. Bis jetzt abgelenkt von dem aus verschlungenen Fäden bestehenden Gewebe menschlicher Dramen, das sich über den Gipfel des Flattop Mountain breitete, bemerkte sie erst, wie schwer das Netz auf ihr lastete, als sie darunter hervorkroch.
Nun saß sie unbeobachtet an einer abgelegenen Biegung des Baches. Felsen, so hoch wie der Widerrist eines Pferdes, bildeten eine natürliche Festung zwischen ihr und dem anstrengenden Gewimmel im Fifty Mountain Camp. Anna ertappte sich dabei, dass sie die Luft in gewaltigen Zügen einatmete und sie, begleitet von Seufzern, in
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