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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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kohlschwarzen Baumstümpfen auf. An den Bäumen lehnten Rucksäcke, und die typischen Wäschestücke von Rucksackreisenden – Socken und alte Handtücher – hingen schlaff an mageren Ästen.
    Wegen der Hege und Pflege der Bären unterschieden sich die Zeltplätze im Glacier von anderen ihrer Art. Eine einzige Stelle, abseits der Zelte, war dem Kochen und der Nahrungsaufnahme vorbehalten. Damit schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe: Erstens wurde dadurch das ständige Umhergehen eingedämmt, das Essbereiche unweigerlich auslösten, und zweitens wurde diese für Bären äußerst anziehende Tätigkeit nun nicht mehr in der Nähe der Schlafgelegenheiten ausgeübt.
    Die Kochstelle in Fifty Mountain befand sich zwischen einem Bach, der sich grünlich glitzernd durch die verbrannte Landschaft schlängelte, und den Zeltplätzen ein Stück den Hang hinauf am Rand der Feuerschneise.
    Als Anna vom Bach aus den Hügel hinaufstieg, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass im Essbereich eine Dorfversammlung abgehalten wurde. Die Leute drängten sich, Hinterteil an Hinterteil, auf den grob gehauenen Holzbänken, während andere, in ein leises Gespräch vertieft, herumstanden. Anna erkannte, Joan, Gary und Vic. Bei ihnen war ein hochgewachsener blonder Mann mit gesunder Gesichtsfarbe und der durchtrainierten guten Figur eines Menschen, der jeden Tag weite Strecken zu Fuß geht. Er trug die Sommeruniform der Nationalen Parkaufsicht, Shorts und keine Pistole. Wie Anna vermutete, handelte es sich um Buck, den im Hinterland stationierten Ranger, den Harry damit beauftragt hatte, Rorys Eltern erst die schlechte und dann die gute Nachricht zu überbringen.
    Als die vier sie bemerkten, erstarrten sie kurz und schienen die neue Information zuerst verarbeiten zu müssen. »Auferstanden von den Toten!«, rief Joan dann. »Mein Junge ist zurück.« Im nächsten Moment entstand Bewegung.
    Ein unscheinbarer kleiner Mann, leicht gebeugt und mit feinem, schütterem vom Wind zerzausten Haar, stand auf, beschattete mit der Hand seine Augen und lächelte schließlich. Beim Anblick des Lächelns, begleitet von einem inneren Strahlen, wusste Anna sofort, wen sie vor sich hatte: Les, Rorys Vater. Wenn sie sich freuten, ähnelten sich ihre Gesichter. Als Les ein paar Schritte um die Bank herum machte, erlosch das begeisterte Leuchten, erstickt von der Ablehnung, die er in der Miene seines Sohnes gesehen hatte. Anna beobachtete, wie sich Lester Van Slyke die letzten Meter vom Bach her näherte. Rory, der bereits in der Menschenmasse untergetaucht war, wechselte nur wenige Worte mit ihm, bevor er sich wieder den anderen zuwandte.
    Les blieb am Rand der Gruppe zurück. Zweimal straffte er die Schultern, reckte das Kinn und spähte über die Leute hinweg, als wolle er sich der Aufgabe stellen, sich durch die Anwesenden zu seinem Sohn durchzudrängen. Doch Aussichtslosigkeit oder mangelnder Mut hielten ihn beide Male zurück. Schließlich drehte er sich um und machte sich an einem Tagesrucksack auf einer der Bänke zu schaffen. Anna war klar, was er da tat. Er beschäftigte sich damit, beschäftigt zu sein, um zu zeigen, dass er jede Menge wichtiger Dinge zu erledigen hatte. Damit machte er sich vor – oder hoffte, es den anderen vormachen zu können –, dass er nicht ausgeschlossen worden war. Beziehungsweise, dass er gar nicht die Zeit hatte, diese Kränkung zur Kenntnis zu nehmen. Anna konnte Carolyn Van Slyke, die Stiefmutter, nirgendwo entdecken. Wahrscheinlich war sie bei Rory im Zentrum der Gruppe.
    Obwohl Anna nicht vorhatte, Lester Van Slyke einfach nur deshalb sympathisch zu finden, weil sein Sohn ihn nicht mochte, hatte sie dennoch Mitleid mit ihm. »Sie müssen Rorys Vater sein«, sagte sie darum und hielt ihm die Hand hin. Les zuckte beinahe zusammen, fasste sich aber rasch und schüttelte ihr die Hand. Seine Finger waren warm und weich, sein Händedruck war beinahe nicht vorhanden. Es war, als gäbe man dem Schwanz einer Katze oder einem Luftzug aus dem Kamin die Hand.
    »Ich wette, Sie sind froh, Ihren Jungen wiederzuhaben«, fügte Anna hinzu, damit kein Schweigen entstand. Les’ Reaktion fiel ein wenig verdattert aus, als wisse er nicht gleich die richtige Antwort. Sein Blick wanderte zwischen Anna, der Wand aus ihnen zugekehrten Rücken und dem Rucksack, an dem er herumgenestelt hatte, hin und her. Für einen Mann seines Alters – Anna schätze ihn auf um die sechzig – war sein Gesicht bemerkenswert offen. Anna konnte

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