Blutköder
sich aufsaugte, als hätte sie sich zu lange unter Wasser aufgehalten. Das Hyperventilieren trieb ihr die Tränen in die Augen. Keine heilenden Tränen, die ungehindert flossen und die Trauer wegspülten, sondern geizige, heiße, die nur in den Augenwinkeln brannten. Es waren kleinliche, erzwungene Tränen, vergossen wegen ihrer eigenen Erschöpfung und deshalb, weil sich das Bild der Frau mit dem verstümmelten Gesicht hartnäckig auf ihrem Augenhintergrund hielt. Vielleicht wären die Tränen großzügiger geströmt, wenn sie um andere geweint hätte.
Joan hatte geweint, weil Rory, unzerbissen und unzerkratzt, doch nicht im Verdauungstrakt des Bären gelandet war. Es waren Freudentränen gewesen, die aus dem warmen Herzen einer Mutter kamen. Aus unerklärlichen Gründen beneidete Anna Joan um ihre tiefe Verbindung zu ihren Mitmenschen. Joan war Mitglied des Clubs, während Anna häufig den Verdacht hatte, dass sie selbst aus der Begegnung eines durchreisenden Außerirdischen mit einer Menschenfrau hervorgegangen war. Jedenfalls wäre es eine Erklärung dafür gewesen, warum sie sich meistens fremd fühlte.
»Ich sollte meinen Geisteszustand untersuchen lassen«, murmelte sie und wünschte, sie hätte die Möglichkeit gehabt, Molly anzurufen. Stattdessen zwang sie sich, sich aufzurichten und sich mit dem eisigen, milchigen Gletscherwasser das Selbstmitleid aus dem Gesicht zu waschen. Nachdem ihre Haut staubfrei war und ihre Gedanken nicht mehr um die eigene Person kreisten, legte sie sich wieder auf den Stein, genoss die Sonne auf der Haut und versuchte, Kraft aus der Erde zu schöpfen. Bis auf das leise Glucksen des Baches herrschte die für das Hochland eigentümliche Stille. Kein Vogelgezwitscher. Kein Geraschel von Eichhörnchen. Nicht einmal die Insekten summten.
Und in diesem bis ins Mark gehenden Frieden stiegen allmählich Bilder auf, Szenen, die zum fraglichen Zeitpunkt keinen oder nur wenig Sinn ergeben hatten.
Nachdem Anna dem Polizeichef gemeldet hatte, Lester Van Slykes Frau sei verschwunden, hatte Harry Vater und Sohn von den anderen abgesondert. Da Rory alt genug war, musste auch er die Nachricht verkraften, dass es sich bei der gefundenen Leiche aller Wahrscheinlichkeit nach um die seiner vermissten Stiefmutter handelte. Zu ihrer Erleichterung war Anna nicht aufgefordert worden, sich an diesem Gespräch zu beteiligen. Sie hatte fünf Meter entfernt an einem Baumstumpf gelehnt und die drei Männer neugierig beobachtet. Ruick hatte ihr den Rücken zugekehrt, doch Rory und seinen Vater hatte sie gut im Blick gehabt.
Da Anna im Laufe der Jahre vielen Parkbesuchern eine traurige Mitteilung hatte machen müssen, kannte sie die Stadien der Schicksalsergebenheit. Und, vorhersehbar wie der Sonnenaufgang, zeigten sie sich auch in den Gesichtern von Les und Rory. Zuerst ungläubiges Staunen, dann die Weigerung des Gehirns, das Gesagte zu verstehen, und danach aufkeimende Angst, die schließlich wie eine Welle aus den dunkelsten Ozeanen des Denkens heranbrauste. Zu guter Letzt folgte entweder Zusammenbruch oder Selbstbeherrschung. Rory und Les hatten sich im Griff. Allerdings hatte vor der Phase der Angst, die von Mut – oder Hoffnung – in ihre Schranken gewiesen worden war, etwas stattgefunden, das nicht ins Muster passte.
Wegen des Schocks waren die Gesichter von Vater und Sohn für einen Sekundenbruchteil frei von jeglicher Verstellung gewesen, und die beiden hatten einen Blick gewechselt, in dem sich ein ungeschöntes Gefühl spiegelte. Nur was für ein Gefühl? Das war die Frage, die Anna zu schaffen machte. Sie konnte nur vermuten, was es ganz sicher nicht gewesen war. Allerdings musste sie mit Les und Rory einzeln sprechen. Denn sie hatten einander zwar gleichzeitig angesehen, jedoch weder verschwörerisch noch anteilnehmend. Es handelte sich lediglich um zwei im selben Moment ausgesendete, unmaskierte Gedanken.
Les hatte seinen Sohn nicht liebevoll oder besorgt betrachtet. Soweit Anna feststellen konnte, hatte er keinen Trost gesucht und auch keinen spenden wollen. Sie konnte die Bedeutung dieses so plötzlichen düsteren Aufblitzens von Leidenschaft, dessen Zeugin sie geworden war, nur so weit eingrenzen, dass sie es offenbar mit Entsetzen, abgelöst von Scham, zu tun hatte. Es war nur ein flüchtiger Eindruck gewesen, der rasch der ausdruckslosen Miene der Verständnislosigkeit gewichen war. Danach hatte Les – wenn überhaupt möglich – noch demütiger und lebensuntüchtiger gewirkt als
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