Blutköder
zuvor.
Rorys Augenausdruck gab Anna zusätzliche Rätsel auf. Wut vielleicht? Möglicherweise Respekt? Anna konnte nur raten. In Gesichtern zu lesen war eine Kunst, keine exakte Wissenschaft. Manchmal war einem die Muse hold, dann wieder spielte sie nur mit einem.
Ausgehend davon, dass der Hauptverdächtige in einem Mordfall unweigerlich der Ehepartner war, fand Anna diese Blicke bedeutungsvoll. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, wie der zurückhaltende Mr Van Slyke mitten in der Nacht – vorausgesetzt, seine Frau war, wie allgemein üblich, nachts ermordet worden – in seinen nagelneuen Wanderstiefeln aus dem Zelt gekrochen war, um Carolyn einige Kilometer weg vom Lager zu folgen, beziehungsweise sie dorthin zu locken, sie zu töten und ihr das Gesicht zu verstümmeln. Das Gesicht eines Menschen zu entstellen wies normalerweise auf rasende Wut und einen unbändigen Hass entweder auf das Opfer selbst oder auf Angehörige seines Geschlechts im Allgemeinen hin. Nur enge Freunde und Erzfeinde zerschnitten einem das Gesicht. Lester Van Slyke schien zu so heftigen Gefühlen nicht fähig zu sein. Andererseits konnte der äußere Schein auch trügen.
Inmitten dieser flüchtigen und vielleicht auch nur eingebildeten Widersprüchlichkeiten – und Anna wusste, dass sie dazu neigte, in jedem auch noch so gesetzestreuen Bürger einen Bösewicht zu sehen – gab es etwas, das tatsächlich nicht ins Bild passte. Lester Van Slykes Frau war bereits zwischen vierundzwanzig und sechsunddreißig Stunden lang in der Wildnis unterwegs gewesen, als er sich endlich die Mühe gemacht hatte, ihr Verschwinden zu melden. Und das war an sich schon ausgesprochen merkwürdig.
Wenn Anna, was das Erschrecken und die Scham in Lesters Miene anging, recht hatte, handelte es sich vielleicht um eine Reaktion auf sein eigenes Versagen. Oder konnte es Angst vor etwas sein, das Rory seiner Vermutung nach getan haben mochte?
Rory. Anna grübelte eine Weile über den Jungen nach. Er blieb ihr ein Rätsel. In Menschen seines Alters tobte ein solches Gemisch aus Gefühlen, Hormonen, keimendem Stolz und ererbten Fehlinformationen, dass es nahezu unmöglich war, aus ihrem Verhalten auf wie auch immer geartete Motive zu schließen. Meistens konnten sie ihre Beweggründe selbst nicht erklären. Zu den wenigen Dingen, die Anna über Rory wusste, gehörte, dass er seine Stiefmutter vergötterte oder sie zumindest sehr bewunderte. Außerdem war er in der fraglichen Nacht nicht aus freien Stücken aufgebrochen, sondern halb bekleidet vor dem Blutdurst eines Bären geflohen.
Halb bekleidet. Anna störte etwas daran. Wie eine träge Katze rekelte sie sich in der Sonne und ließ Bilder vom halb nackten Rory vor ihrem geistigen Auge entstehen.
Dass er sich weigerte, über das auf geheimnisvolle Weise verschwundene Sweatshirt zu sprechen, war zwar seltsam, aber nicht welterschütternd, und deshalb nicht die Erbse unter Annas sinnbildlicher Matratze, die sich bei jedem Umdrehen schmerzhaft in ihre Gedanken drückte. Die Jogginghose, die Stoffschuhe, der Sonnenbrand, die Risswunde am Fuß: Alles war so, wie es sein sollte. Anna hörte auf, Listen aufzustellen, und ließ die Erinnerungsfetzen wie einen Film in ihrem Kopf ablaufen. Rory, wie er redete, auf dem Baumstumpf saß, lachte, Wasser trank.
Wasser trank. Und zwar aus seiner schicken, mit einem Filter ausgestatteten, eigens bestellten Flasche, die das Neueste auf dem Markt war.
Warum hatte jemand, der an Durchfall litt und in den Wald hastete, um seine Notdurft zu verrichten, seine Wasserflasche bei sich? Laut Rory war er nach Erscheinen des Bären auf der Bildfläche so in Eile gewesen, »Hilfe zu holen«, dass er nur die Hose hochgezogen hatte und losgerannt war. Er hatte nicht einmal seine Taschenlampe mitgenommen.
Vielleicht hatte die Flasche ja nichts zu bedeuten. Rory hätte auch ausgetrocknet sein und davon ausgehen können, dass er mit seinem Durchfall lange genug im Wald würde bleiben müssen, um Durst zu bekommen. Möglicherweise hatte er ja aus einem Reflex heraus nach der Flasche gegriffen, ehe er vor dem Bären floh. Andererseits konnte es auch ein Hinweis darauf sein, dass er beim Verlassen des Zeltes bereits ein Ziel vor Augen gehabt hatte. Er hatte gewusst, dass er eine längere Strecke würde zurücklegen müssen und deshalb Wasser brauchen würde. Als die düstere Wucht des Verdachts jeden wohlwollenden Gedanken erdrückte, fiel Anna ein, dass Rory womöglich seine Gründe gehabt
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