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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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nicht ein, warum ich ins Tal muss und an mir rumdoktern lassen soll, nur weil ich mich verirrt habe. Der Typ will nur seinen Arsch absichern, für den Fall, dass ich beschließe, doch eine schwere Verletzung zu haben und ihn zu verklagen, was ich nicht vorhabe. Außerdem möchte er alles so hinbiegen, dass es wie eine gute Idee aussieht, seine Truppen loszuschicken und einen Helikopter herzubeordern. Weshalb soll ich dafür bestraft werden, dass ich mich aus Versehen verlaufen habe?«
    Bestraft. Kindersprache. Dennoch konnte Anna ihn verstehen. Außerdem war sie beeindruckt, dass er trotz seiner Jugend das übersteigerte Sicherheitsdenken durchschaute, das eine krankhaft prozessfreudige Gesellschaft den staatlichen Institutionen aufgezwungen hatte.
    »Der Bär hat unsere Zelte zerrissen«, versuchte sie es dennoch weiter. »Er hat sie zerfetzt wie Konfetti.«
    »Die waren aus Regierungsbeständen. Behaupte jetzt bloß nicht, dass sie keine Ersatzzelte haben.«
    Das war auch gar nicht Annas Absicht. Offen gestanden waren die Zelte bereits ausgetauscht worden. Das Bärenteam hatte zwei zusätzliche mitgebracht und auf Annas und Joans Lagerplatz hinterlassen.
    »Wenn es sein muss, schlafe ich auch auf dem Boden«, fügte Rory hinzu.
    Er krampfte die Hände so fest im Schoß zusammen, dass seine Knöchel sich weiß verfärbten. Rory hatte von Anfang an eine Todesangst vor Bären gehabt. Dann hatte ein besonders blindwütiger Vertreter dieser Art seine Befürchtungen bestätigt. Wenn er dennoch bereit war, eine weitere Nacht im Freien zu verbringen, hatte er wirklich Mut. Vielleicht war das ja der Grund: Er musste sich selbst beweisen, dass er kein Feigling war.
    »Gut«, sagte Anna. »Ich bringe es Harry bei.«
    Harry war zwar nicht sehr erfreut, dachte aber praktisch. Juristisch betrachtet konnte er Rory nicht dazu zwingen, sich ausfliegen zu lassen, da der Junge weder geistig unzurechnungsfähig noch bewusstlos war. Offiziell war er zwar noch minderjährig, doch seine Eltern hielten sich in der Nähe auf. Da er eindeutig keine lebensbedrohlichen Verletzungen aufwies, wäre es deshalb unentschuldbar und übertrieben gewesen, die Alterskarte auszuspielen. Da Anna Ruick außerdem für einen gerechten Menschen hielt, würde er sicher nicht verhindern, dass Rory als Mitglied von Earthwatch weiter an der DNA -Studie teilnahm.
    »Du wirst in diesen Dingern zurück nach Fifty Mountain gehen müssen«, warnte Harry und wies auf Van Slykes unzureichende Fußbekleidung.
    »Das schaffe ich, Sir«, erwiderte Rory. Seit er seinen Willen durchgesetzt hatte, benahm er sich wie das Sinnbild der guten Manieren und des jungenhaften Respekts.
    »Hast du ein Hemd, das du über den Sonnenbrand ziehen kannst?«
    »Anna hat mich mit Sonnencreme eingerieben, Sir.«
    Die »Sirs« verfehlten ihre Wirkung nicht, denn sie besänftigten Ruick, sodass er das Interesse verlor. »Dann also los«, meinte er. »Wahrscheinlich werden wenigstens deine Eltern froh sein, dich zu sehen.«
    Auf Harrys Vorschlag waren die Wanderer, die Rory gefunden hatten, schon vorausgegangen. Ruick bildete die Vorhut und passte das Tempo an Van Slykes wundgescheuerte Füße an, obwohl er das nie zugegeben hätte. Rory marschierte in der Mitte. Anna folgte.
    Während sie hinter den beiden hertrottete, fiel ihr auf, dass Rory sich nicht danach erkundigt hatte, ob seine Eltern sich Sorgen machten. Obwohl Harry ihm mitgeteilt hatte, er habe jemanden zu ihnen geschickt, um zu melden, dass er gefunden worden sei, erschien es Anna merkwürdig. Wenn sie in seinem Alter sechsunddreißig Stunden lang vermisst gewesen wäre, wäre ihr erster Gedanke gewesen, ob sie zu Hause wohl Ärger erwartete und ob die große Erleichterung ihrer Eltern – wie es unweigerlich geschah – genug Zeit gehabt hatte, um sich in Zorn zu verwandeln.
    Das Fifty Mountain Camp befand sich am nördlichsten Zipfel des verbrannten Gebiets. Die Bäume waren verkohlte Stümpfe, und die Zelte standen auf geschwärztem Boden. Vierzig Meter weiter war das Feuer endlich erloschen. Hier begannen grüne geschwungene Hügel und mit bunten Wildblumen bewachsene Wiesen. Sie waren samtig und üppig und erstreckten sich zwischen Felsen, die so groß waren wie Häuser und Autos, herabgestürzt vom Felsgrat, ein wundersames Stonehenge, das scheinbar bis zum Ende der Welt reichte.
    In Fifty Mountain gab es fünf Zeltplätze, alle voll besetzt. Orangefarbene, blaue und grüne Kuppelzelte ragten wie Giftpilze zwischen den

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