Blutköder
hatte, sein fehlendes Sweatshirt nicht zu erörtern: Er hatte es absichtlich zurückgelassen und versteckt, damit niemand sah, dass es voller Blut war.
»Igitt«, sagte Anna und setzte sich auf. Die Sonne war zwei Fingerbreit nach Westen gewandert. Es würde zwar noch einige Stunden hell bleiben, aber es war das Beste, wenn sie sich bald auf den Rückweg zu ihrem Lagerplatz machten. Buck, dem Himmel sei Dank für seine langen Beine und seinen Tatendrang, hatte sich erboten, den hin und zurück neun Kilometer weiten Fußmarsch zu Annas und Joans Lager auf der anderen Seite des Gipfels auf sich zu nehmen, um Stiefel und Socken für Rory zu holen.
Trotz der hohen Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei der Toten um seine Stiefmutter handelte, hatte Rory sich geweigert, seinen Vater und Harry Ruick mit dem Helikopter ins Tal zu begleiten. Dabei hatte man viel Mühe aufgewendet, um ihn zu überzeugen. Anna hatte sich vor dieser Aufgabe gedrückt und Ruick die Angelegenheit überlassen. Doch wieder hatte Rory seinen Willen durchgesetzt, sodass man schließlich ohne ihn aufgebrochen war.
Angesichts ihrer seit Kurzem gemischten Gefühle zum Thema Rory bedauerte Anna, dass Ruick nicht ein wenig energischer gewesen war.
Da ihr das Alleinsein durch Gedanken an andere verdorben war, beschloss sie, halb-außerirdischer Eindringling oder nicht, sich wieder der menschlichen Spezies anzuschließen. Sie hatte genau den richtigen Zeitpunkt gewählt, denn als sie gerade ihre Stiefel zuschnürte, hörte sie, wie Joan ihren Namen rief.
»Hier drüben!«, erwiderte Anna.
Ein Scharren ertönte. Im nächsten Moment erschien Joan hinter einem Felsen. Seit Rory gefunden worden war, sah Joan um einiges erholter aus. Der Anblick des unversehrten Jungen hatte die Erschöpfung von zwei Tagen aus ihren Zügen und Augen vertrieben.
»Ach, hier bist du.« Sie klang eindeutig vergnügt. Anna, die ungnädiger Stimmung war, empfand das als ärgerlich.
»Hier bin ich«, bestätigte sie.
Joan machte es sich neben ihr auf dem Felsen gemütlich. »Du wirkst leicht übellaunig«, stellte sie fröhlich fest.
»Übellaunig ist noch milde ausgedrückt. Ich habe nachgedacht«, erklärte Anna.
»Oooh. Klingt gar nicht gut.«
»Warum hatte Rory seine Wasserflasche dabei?«
»Was …« Joan machte erst ein verdattertes und dann, nachdem ihr Verstand die Einzelteile rasch zusammengefügt hatte, ein enttäuschtes Gesicht. Die gute Laune zerplatzte wie ein Luftballon auf einer Geburtstagsfeier. »Oh, Anna, nein …«
»Du musst zugeben, dass das angesichts der Geschichte, die er uns erzählt hat, ein wenig widersprüchlich ist.«
»Es ist trotzdem nicht logisch«, wandte Joan ein. »Wenn er … irgendwo hingewollt hätte, hätte er doch seine Stiefel angezogen.«
»Nicht, wenn er vermeiden wollte, Spuren zu hinterlassen. So weit war es ja nicht.« Anna fiel noch etwas ein, das sie Joan nicht vorenthalten wollte. »Er kann weite Strecken zurücklegen, denn er ist Langstreckenläufer. Das hat er mir selbst gesagt. Er läuft am liebsten barfuß.«
»Ich glaube es nicht«, entgegnete Joan mit Nachdruck.
»Ich auch nicht. Aber du musst zugeben, dass man sich gründlicher mit diesem Punkt beschäftigen sollte.«
Joan seufzte. »Genau deshalb bin ich Zoologin geworden«, meinte sie. »Tiere haben keine Hintergedanken.« Eine Weile herrschte Schweigen. Es dauerte so lang, dass Anna das unangenehme Gefühl bekam, einen schrecklichen Fauxpas begangen zu haben, ohne zu ahnen, was es war.
»Weißt du was?«, begann Joan schließlich. »Bei dir besteht Gefahr, dass du auf die dunkle Seite hinüberwechselst, Anna. Du brauchst viel mehr Regenbogen, Rosen und Kätzchen mit Schnurrhaaren in deinem Leben. Wie in Meine Lieder, meine Träume. Wahrscheinlich hat man mir deshalb die Verantwortung für dich übertragen, damit ich dich mal so richtig aufheitere. Und du bist noch zwei Wochen in meiner Gewalt.«
»Mein Gott, das ist viel zu wenig«, erwiderte Anna ernst.
Joan lachte auf, ein Geräusch, das so erfüllt von wirklich fröhlicher Ausgelassenheit war, dass Anna einstimmte und sich gleich viel besser fühlte.
»Die Pläne wurden geändert«, verkündete Joan, nachdem das Gelächter verklungen war. »Rory muss jetzt doch ins Tal. Wir anderen auch. Für einen Tag. Harry braucht uns für seine Berichte, Vernehmungen und so weiter, was die Suchaktion und die andere Sache angeht. Da es heute schon zu spät zum Aufbruch ist und niemand für Leute wie uns einen teuren
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