Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
Vom Netzwerk:
und ist so deutlich zu erkennen wie die Muster, die der Wind aufs Wasser malt. Rory hingegen war alt genug, um bereits auf die Maske zurückgreifen zu können, hinter der Menschen ihre Emotionen verbergen. Vermutlich war der erste Entwurf zu dieser Maske bereits mit sieben Jahren entstanden. Und wenn Rory erst einmal dreißig war, würde sie vollendet sein, ein falsches Gesicht, undurchdringlich, vielleicht sogar für ihn selbst. Mit achtzehn wies die Fassade jedoch noch durchlässige Stellen auf. Anna stellte fest, dass sich die Gefühle hinter der noch unfertigen Maske bewegten wie Schauspieler hinter einer Milchglasscheibe.
    Einen Sekundenbruchteil lang flackerte ein Licht auf, eine Kerze hinter seinen Augen, die rasch wieder gelöscht wurde. Bevor Gedanken oder Erinnerungen die Flamme erstickt hatten, war Rory aufrichtig froh gewesen, seinen Vater zu sehen.
    »Es ist deine Stiefmutter, Sohn. Sie ist tot«, sagte Les, der inzwischen seine Stimme wiedergefunden hatte. Seine hellblauen Augen füllten sich mit Tränen, die unbemerkt über die schlaffen Wangen liefen und in den Stoppeln des Zweitagebarts versickerten.
    Das Leuchten verschwand aus Rorys Augen, offenbar ertränkt in den Tränen seines Vaters. Die Gefühle, die darauf folgten, huschten so schnell hinter der verzerrenden Glasscheibe der Zivilisation vorbei, dass Anna nicht sicher war, ob sie sie richtig gedeutet hatte. Es wirkte wie eine Portion Enttäuschung, gefolgt von einem Schluck Widerwillen.
    Als Rory bemerkte, dass Anna ihn beobachtete, wurden seine Züge hart. Wieder eine Lektion in Sachen Täuschung gelernt. Beim nächsten Mal würde die Maske eine weitere undurchsichtige Schicht haben. Falls er trauerte, spielte sich das tief in seinem Innersten ab. Er zeigte dem weinenden Lester die kalte Schulter und wandte sich an Harry Ruick.
    »Wissen Sie, wer sie umgebracht hat?«
    »Nein«, erwiderte Ruick wahrheitsgemäß. »Wir hoffen, dass die forensischen Beweisstücke, die wir ans Labor geschickt haben, uns Aufschluss geben werden. Bis dahin werden wir dir und deinem Dad eine Menge Fragen stellen müssen, um alles Notwendige über deine Stiefmutter herauszufinden. Das bringt uns vielleicht weiter.«
    Rory nickte. Er wirkte viel älter, als er war. Les hatte, möglicherweise, weil die Natur keine Leerstellen mag, zumindest äußerlich die Rolle des Kindes übernommen und schniefte in ein zerknülltes Taschentuch. »Ich fühle mich schrecklich verloren«, sagte er, und er klang auch so.
    Als sie ins Auto stiegen, forderte Les Rory auf, ihn in sein Motel zu begleiten. Aber der Junge lehnte ab. Offenbar zog er den schmuddeligen und spartanischen Schlafsaal für die Forschungsassistenten der Nationalen Parkaufsicht einer bequemeren Unterkunft vor, für die er jedoch die Gesellschaft seines Vaters hätte in Kauf nehmen müssen.
    Lester fand sich schicksalsergeben mit der Zurückweisung ab. Anscheinend schlug sein Sohn ihm nicht das erste Mal die Tür vor der Nase zu. Das Mitleid traf Joan so hart, dass sie das Gesicht verzog wie nach einem Magenschwinger. Anna fragte sich, ob sie sich den Schmerz nur ausmalte oder ob sie von ihren Söhnen Luke und John ähnliche Seitenhiebe hatte einstecken müssen.
    Da Rorys erwachsene Fassade zu bröckeln begann und Lester Van Slyke vor Erschöpfung aschfahl war, verschob Ruick, aus Gründen der Notwendigkeit, nicht aus Rücksichtnahme, die Befragungen und Vernehmungen auf den kommenden Nachmittag.
    Die zwanzig Minuten, die sie eng gedrängt im Auto saßen und die Angst und Wut und den Schweiß der anderen einatmeten, bedeuteten für Anna eine harte Prüfung. Sie kurbelte ihr Fenster herunter, hielt das Gesicht in den Fahrtwind und schaltete die Ohren auf Durchzug. Rory, der zwischen ihr und Joan auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, stieß in jeder Kurve der gewundenen Bergstraße mit ihr zusammen. Die Berührungen und das Eindringen in ihren Bereich der Rückbank erfüllten Anna mit einer brennenden kindlichen Wut.
    Sobald sie die Wohnsiedlung der Mitarbeiter erreicht hatten und Ruick in Joans Einfahrt einbog, hatte Anna die Hand am Türgriff. Sie öffnete die Tür, noch ehe der Wagen richtig stand, und stieg hastig und fluchtartig aus. Es kostete sie Mühe, sich zu beherrschen, um die Gegenwart der anderen so lange zu ertragen, bis sie ihren Rucksack aus dem Kofferraum geholt hatte. Während Ruick ihren Rücken noch mit Anweisungen bombardierte, steuerte sie schon auf die Eingangstür zu.
    Drinnen machte Joan ihr

Weitere Kostenlose Bücher