Blutköder
ihrem Unterbewusstsein gelungen, die Äußerung, an den Zensoren vorbei, zur Zunge zu schmuggeln.
»Hier sind die neuen Zelte.« Rory wies auf zwei unbeschädigte blaue Stoffsäcke, die an dem die Lichtung beherrschenden Felsen lehnten.
»Dann an die Arbeit.« Anna zwang sich, sich in Bewegung zu setzen. »Wenn wir erst ein Dach über dem Kopf und etwas gegessen haben, fühlen wir uns sicher gleich besser.«
Die Zelte wurden aufgeschlagen und die zerstörten Überreste derer, in denen sie vor zwei Nächten geschlafen hatten, in stillschweigender Übereinkunft außer Sichtweite hinter dem Felsen verstaut. Das Essen, eigentlich Teil von Annas Erholungsgprogramm, musste bis auf ein paar Müsliriegel aus ihren Rucksäcken ausfallen: Das Bärenteam hatte aus unerfindlichen Gründen nach dem Ablegen der Zelte die Lebensmittel aus ihrem Versteck geholt und mitgenommen.
»Was, zum Teufel, glauben die, sollen wir essen?«, schimpfte Anna.
»Vielleicht waren sie mehr in Sorge, dass wir aufgefressen werden könnten«, erwiderte Joan.
Anna beschloss, keinen Hunger zu haben. Eigentlich war sie hauptsächlich müde.
Am Morgen nach dem Angriff, als ihre organisatorischen Fähigkeiten ein wenig in Mitleidenschaft gezogen gewesen waren, hatten Anna und Joan ihre persönliche Habe einfach wild durcheinander in einen Müllsack gestopft. Nun saßen sie bei Dämmerung mit gezückten Taschenlampen vor besagtem Müllsack wie Seeräuber, die ihre Beute aufteilen. Anna ertappte sich bei dem Wunsch nach einer zischenden und grellen Gaslaterne, jedenfalls nach etwas Hellerem als einer achtzehn Zentimeter langen Maglight, um die Schrecken der Nacht in Schach zu halten.
Soweit sie feststellen konnte, fühlte Joan sich auch nicht viel besser, und Rory zuckte zusammen, sobald eine von ihnen auch nur die Sitzposition veränderte und ein scharrendes Geräusch erzeugte, das durchaus von heranschleichenden Bären stammen konnte. Mit zunehmender Dunkelheit wurde es rasch kälter. Annas Muskeln verspannten sich. Sie brauchten alle etwas Warmes zu essen.
Das Wühlen ging weiter. Wie Mrs Weihnachtsmann tauchte Joan mit Kopf und Armen in den Müllsack ein und holte einen Gegenstand nach dem anderen heraus.
Mokassins für Anna, Unterwäsche für Joan, eine einzelne Socke für Rory. Ein Pulli für Joan, Levi’s für Anna, Wasserflasche für Rory.
Jäh aus ihrer Weihnachtsstimmung gerissen, fuhr Anna hoch. »Gottverdammtemistwasserflasche«, knurrte sie.
Die anderen starrten sie an, als hätte sie den Verstand verloren.
8
Anna zog es vor, ihren Ausbruch nicht näher zu erläutern. Als die anderen sie bedrängten, schützte sie ein chronisches, aber nur gelegentlich auftretendes Tourettesyndrom vor. Die Fragen, die die Wasserflasche ärgerlicherweise aufwarf, gehörten nicht zu denen, die sie bei Nacht und einen zehnstündigen Fußmarsch entfernt von zuverlässigen Helfern erörtern wollte.
Doch obwohl sie ihre Zweifel nicht aussprach, bohrten sie sich ihr heiß und nadelspitz ins Gehirn, sodass sie keinen Schlaf fand. Joan hatte sich neben ihr in ihren marineblauen Daunenschlafsack gekuschelt und schnarchte leise. Schnarchen bei Frauen war ein gut gehütetes Geheimnis. Man verbarg es nicht vor der Umwelt im Allgemeinen oder vor Ehemännern, Liebhabern, Mitbewohnern und anderen Menschen, die Ohren hatten, um zu hören, sondern vor den Schnarcherinnen selbst. Anna überlegte, ob sie wohl auch schnarchte. Bis jetzt hatte es ihr noch niemand gesagt, aber das würde vermutlich auch niemals geschehen, oder?
Sie spielte ernsthaft mit dem Gedanken, Joan zu wecken und ihr Gruselgeschichten zu erzählen. Beinahe hätte sie es – der Denkschule »Die kleine Wolke ist einsam« oder »Geteiltes Leid ist halbes Leid« folgend – auch getan. Doch das Schnarchen stimmte sie milde. Joan hatte so ein glückliches, kindliches Schnarchen. Unter weniger vom Bösen bedrohten Umständen hätte Anna es als genauso vertrauenerweckend und einschläfernd empfunden wie Piedmonts tiefes, grollendes Schnurren.
Anna rollte sich zu einer Kugel zusammen wie ein korkenzieherförmiger Kokon, um ihren Bauch vor Raubtieren zu schützen, und gab sich einsamen Grübeleien über die Gottverdammtemistwasserflasche hin. Oder, um genau zu sein, Wasserflaschen. Im Plural. Es waren drei. Drei ungewöhnliche, nur aus dem Bestellkatalog zu beziehende, hochmoderne Wasserflaschen mit eingebautem Filter, alle vom selben Hersteller. Rory hatte am Anfang ihres Abenteuers eine besessen. Als
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