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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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ein unglaublich großzügiges Angebot: »Möchtest du zuerst duschen?«
    Anna gelang ein gerade noch höfliches Nicken, bevor sie sich in das wunderbar einsame Bad einschloss.
    An diesem Abend hatten weder Joan noch Anna das Bedürfnis, geschweige denn die Kraft, zum Fachsimpeln. In ihrem mit Teddybären bedruckten Besuchsschlafanzug lag Anna auf dem Sofa, sah sich ziellos irgendwelche Sendungen an und war gleichzeitig froh und verärgert darüber, dass ihre Gastgeberin Antialkoholikerin war. In ihrem momentanen geistigen und körperlichen Zustand hätte Anna liebend gern etwas getrunken, falls Alkohol im Haus gewesen wäre. Wenn die Engel auf ihrer Schulter saßen, war sie dankbar, von der Versuchung in Form dieses hinterhältigen, unberechenbaren und höchst wirksamen Stoffes verschont zu bleiben. Kreischten ihr hingegen die Dämonen ihrer sorgfältig bereinigten Erinnerungen an drogenberauschte Glückseligkeit ins Gesicht, sehnte sie sich nach eben dieser Versuchung, um sich ihr hinzugeben.
    Joan zog es vor, ihr Gehirn nicht mit Fernsehen oder Alkohol zu betäuben, sondern mit ihrer persönlichen Lieblingsdroge: Arbeit. Um sie türmten sich die Berichte über Begegnungen mit Bären aus den letzten Tagen, unzählige Faxe und E-Mail-Ausdrucke und Polizeiberichte, die sie – nach der uralten Sitte aller Süchtigen, Drogenvorräte anzulegen – per Funk angefordert und die ihre Assistentin ihr auf den Esstisch gelegt hatte.
    »Zuerst die E-Mails«, verkündete Joan und klappte den Laptop auf. »Aha, drei von meinem Kartenjungen, der wissen will, wo die Bären in dieser Woche auf Nahrungssuche gehen.«
    »Wie kannst du sagen, wo sie sein werden?«, wunderte sich Anna.
    »Das kann ich nicht. Nur, wo das Futter sein wird. Was gerade reif ist und so.«
    Anna überließ sie ihrer Tätigkeit.
    Gerade machte sie sich einen Spaß daraus, die schweren Fehler der Polizisten in einer Krimiserie aufzulisten, als Joan das lange und friedliche Schweigen brach.
    »Seit wir im Hochland gewesen sind, gab es vier Begegnungen mit Bären«, sagte sie.
    »Hmmm«, erwiderte Anna, um nicht unhöflich zu sein, allerdings in der Hoffnung, dass das Geräusch eine Fortsetzung des Gesprächs unterbinden würde.
    »Eine davon ist ziemlich komisch«, fügte Joan hinzu.
    Anna weigerte sich, nachzufragen. Einige Sekunden vergingen. Sie konnte Joans Bedürfnis, zu reden, fast mit Händen greifen.
    Joan hielt es nicht mehr aus. »Offenbar hat der hier getanzt.«
    »Bald fahren sie Rad oder machen Wahlkampf«, entgegnete Anna.
    Der Kontakt war hergestellt. Als Joan sich die Augen rieb, rutschte ihr die Brille auf die Handrücken. »Glaubst du, Rory kommt damit klar?«, meinte sie. »Er schien es jedenfalls zu verkraften. Viel zu gut, wenn du mich fragst.«
    »Er ist still, zu still …«, verkündete Anna.
    »Ja, genau. Hattest du nicht auch den Eindruck, dass er sich in sich selbst zurückgezogen hat, als sein Dad und Harry losflogen, um die Leiche zu identifizieren? Er hat doch wissen müssen, dass es seine Stiefmutter war. Schließlich hatten wir anderen diese Vermutung.«
    Anna dachte an die Wasserflaschen und überlegte, ob Rory nicht nur geglaubt hatte, dass es sich um Carolyn handelte, sondern sich seiner Sache sogar sicher gewesen war.
    »Er schafft das schon«, sagte Anna. Im nächsten Moment fiel ihr ein, dass sie ja mit Joan sprach, nicht mit jemandem, den sie abwimmeln wollte. Also richtete sie sich auf, schlug die Beine im Schneidersitz untereinander und stellte den Ton des Fernsehers ab.
    »Ich bin nicht sicher«, verbesserte sie sich. Sie berichtete Joan von Rorys ausweichenden Antworten, was die Ereignisse während seines sechsunddreißigstündigen Verschwindens anging, und schilderte ihre Befürchtungen, es könne ihm dauerhafte seelische Narben zufügen, dass er sie feige dem Ursus horribilis ausgeliefert hatte. Sie erzählte Joan von Carolyn Van Slykes fehlender Wasserflasche und davon, dass Rory mit einer Ersatzflasche aus dem Wald gekommen war. Danach fühlte Anna sich sehr erleichtert. Von Joan konnte sie das nicht behaupten.
    Joan musterte Anna wie eine Eule durch ihre überdimensionale Brille, als ob sie eine Kotprobe wäre. »Wie schaffst du es bloß, wie ein normaler Mensch herumzulaufen und gleichzeitig so schauerliches Zeug im Kopf zu haben?«, fragte sie schließlich. »Wahrscheinlich ist es so, als wäre man Stephen King, nur ohne das viele Geld.«
    »Mag sein«, räumte Anna ein. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil

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