Blutköder
kindliche Hilflosigkeit wegfiel.
Obwohl die Theorie einigermaßen plausibel klang, war Anna nicht glücklich damit. Es gab noch zu viele offene Fragen. Wie hatte Rory, falls er der Mörder war, das Stelldichein mit seiner Stiefmutter eingefädelt? Und wenn er es nicht geplant hatte, sondern nach seiner Flucht zufällig mit ihr zusammengetroffen war – womit hatte er ihr dann das Gesicht verstümmelt? Nur außergewöhnlich gestörte Zeitgenossen – oder Menschen mit sagenhaftem Organisationstalent – schliefen mit einem Hackebeil in der Pyjamatasche.
Es ist nicht nötig, dass du so viel grübelst. Diesen Rat hatte Molly ihr als Psychiaterin und besorgte Schwester kurz nach dem Tod ihres Mannes gegeben. Nun hatte Anna die Worte wieder im Ohr und schob alle Gedanken an Jungen, Hackebeile und Hightech-Trinkbehältnisse entschlossen beiseite. Der sanfte Rhythmus von Joans Schnarchen sickerte in den nun freien Raum ein. Anna ließ sich davon einlullen.
* * *
Der Fußmarsch ins Tal verlief ereignislos. Sie nahmen denselben Weg, auf dem sie gekommen waren. Zuerst den West Flattop Trail nach Osten zum Fifty Mountain Camp und dann den Flattop Trail nach Süden, wo der Steilhang begann. Allmählich erschien Anna die Landschaft, durch die sie kamen, viel zu vertraut. Auf dem Weg durch das allgegenwärtige Wunder der leuchtend grünen, von Leben strotzenden Gletscherlilien, die fröhlich aus der erschöpften schwarzen Erde brachen, ertappte sie sich dabei, dass sie immer wieder zu den Bergen oberhalb des Flattop Mountain blickte und von neuen Pfaden und neuen Panoramen träumte. Cleveland, Merrit, Wilbur. Herrje, Wilbur. Alltagsnamen für Dinge von so atemberaubender Schönheit.
Rory marschierte voran. Anna hatte ihn unter dem fadenscheinigen Vorwand, er müsse seinen Orientierungssinn schulen, zum Anführer ernannt – als ob ein blinder Dreijähriger auf den deutlich auszumachenden Pfaden des Glacier hätte verloren gehen können. Rory gehorchte. Die Frage stand Joan zwar ins Gesicht geschrieben, doch sie sprach sie nicht aus. Die Antwort hätte gelautet, dass Anna sich mit Rory im Rücken unwohl gefühlt hätte. Sie wollte den Jungen im Auge behalten, bis einige Widersprüche aus der Welt geschafft waren.
Unterwegs sagte keiner mehr als ein Dutzend Wörter, nicht einmal, als sie Rast machten, um ihr kärgliches Mittagessen zu sich zu nehmen. Anna, die in den letzten Tagen zu viel geredet hatte, war froh, den Geschmack von Sprache loszuwerden. Joan war in Gedanken versunken. Angesichts ihrer Miene, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, waren sie alle nicht sonderlich erfreulich. Auch Rory war schweigsam, allerdings aus Gründen, die Anna sich nicht erklären konnte. Er wusste, dass seine Stiefmutter, die er – falls er nicht der Mörder war – angeblich gern hatte, vermutlich nicht mehr lebte. Dennoch trauerte er nicht und zeigte auch sonst nicht die klassischen Symptome, die Anna eigentlich erwartet hatte. Vielleicht war er ja ein typischer Vertreter der Art, die die Augen vor der Wirklichkeit verschloss. Jedoch glaubte Anna das nicht. Denn in diesem Fall hätte er sich hinter einer Fassade aus Fröhlichkeit versteckt. Er wirkte eher wie ein Mann mit einem vielschichtigen Problem, das dafür sorgte, dass all seine Kräfte sich nach innen richteten, während er darüber nachgrübelte. Was immer es auch sein mochte, es schien ihn weder zu ängstigen noch zu bedrücken. Und da er auch nicht langsamer wurde, war Anna zufrieden.
Harry Ruick und Lester Van Slyke erwarteten sie in Packer’s Roost, dem Rastplatz unweit der Going to the Sun Road. Da Harry sicher Wichtigeres zu tun hatte, als den Taxifahrer zu spielen, wusste Anna, dass Carolyn Van Slyke wirklich tot war und dass Lester die Leiche identifiziert hatte. Nun musste man Rory die Hiobsbotschaft beibringen.
Da Anna sich denken konnte, was nun kommen würde, verließ sie ihre Position am Ende der Kolonne und stellte sich links neben Harry Ruick. Sie wollte Rorys Gesicht sehen, wenn er die Bestätigung erhielt, dass seine Stiefmutter ermordet worden war. Bis jetzt waren seine Reaktionen – zumindest die, die er zeigte – auf diese Möglichkeit recht eigenartig gewesen.
Anna schob den Gedanken beiseite, setzte eine bemüht mitfühlende Miene auf und beobachtete die Szene. Lester Van Slyke ergriff als Erster das Wort.
»Sohn«, begann er. »Rory …« Seine Stimme erstarb, und er verstummte.
Einem Kleinkind steht jede Gefühlsregung klar ins Gesicht geschrieben
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