Blutköder
sie ihn nach seinem sechsunddreißigstündigen Verschwinden gefunden hatten, hatte er eine bei sich gehabt. Les, in Fifty Mountain, hatte ebenfalls eine. Jetzt hatte Rory zwei. Das einzige Familienmitglied, das offenbar keine hatte, ja, das ohne Wasserflasche durch den Wald gelaufen war, war Carolyn Van Slyke, die Ermordete. Die Flaschen waren ganz sicher eine Familienangelegenheit. Vermutlich recherchiert, bestellt und verteilt von Carolyn selbst. Lester schien nicht viel über das Leben in der Natur zu wissen oder sich dafür zu interessieren. Rory war Neuling. Doch Carolyn war Fotografin, und ihre Wanderstiefel waren, wenn Anna sich richtig erinnerte, alt und abgenutzt gewesen.
Rory hatte bei seiner Flucht vor dem Bären kein Wasser mitgenommen. Die Flasche hatte die ganze Zeit über hier auf dem Lagerplatz in einem Müllsack gelegen. Irgendwann während der anderthalb Tage, die Mrs Van Slyke vermisst wurde, hatte sie ihre Wasserflasche verloren. Und irgendwann im selben Zeitraum war Rory in den Besitz dieser Flasche oder zumindest einer gekommen, die ihr zum Verwechseln ähnlich sah.
Anna griff hinter sich und tastete den Zeltboden ab, wo er mit der Wand aus Nylon zusammentraf. Ihre Finger berührten die glatten Falten der Plastikfolie, die locker um einen Zylinder gewickelt war, ein sicheres Zeichen dafür, dass es die geheimnisvolle Flasche wirklich gab. Anna hatte sie bei der ersten Gelegenheit unauffällig eingesteckt. Nicht die Flasche aus dem Müllsack, sondern die, die Rory bei sich gehabt hatte, als er unversehrt von seinem Abenteuer zurückgekehrt war.
Um die Fingerabdrücke zu sichern, hätte die Flasche eigentlich besser in einer Papiertüte verstaut werden müssen. Aber da Anna keine hatte, hatte sie improvisiert. Wenn sie wohlbehalten in West Glacier war, würde sie die Flasche Harry Ruick übergeben, damit sie auf Fingerabdrücke und Blutspuren untersucht wurde. Falls sich die Flasche tatsächlich als Carolyn Van Slykes Eigentum entpuppte, steckte Rory ziemlich in der Klemme.
Ein kalter Schauder lief Anna vom Nacken bis zum Hinterteil den Rücken hinunter, als ein Bild wie aus Psycho vor ihrem geistigen Auge erschien: ein Messer, das sich durch das dünne Zelt aus Nylon bohrte. Rory, der mit wildem Blick und wirrem Haar im Lager Amok lief. Sie rollte sich noch fester zusammen und ertappte sich bei dem schäbigen Wunsch, Joan, nicht sie selbst, hätte auf der Rory zugewandten Seite des Zelts geschlafen.
Anna schob Hitchcocks geniale Schilderung des Bösen beiseite und tröstete sich damit, dass sie über Mörder nachdachte. Im Gefängnis machte man Mörder häufig zu Kalfaktoren. Nicht die selten vorkommenden Serienkiller, sondern die ganz gewöhnlichen Feld-Wald-und-Wiesen-Mörder, die sich mit einer einzigen Leiche begnügten. Diese Männer und Frauen stellten eigentlich keine Bedrohung für die Allgemeinheit mehr dar, denn sie hatten den Menschen umgebracht, dem sie den Tod wünschten, und damit die Sache für sich erledigt. Normalerweise hatten sie jemanden getötet, den sie kannten, und zwar – zumindest von ihrer Warte aus betrachtet – aus einem völlig vernünftigen Grund.
Welchen völlig vernünftigen Grund hätte Rory haben können, um seine Stiefmutter zu ermorden? Die Gesichtsverstümmelungen nach dem Tod wiesen auf das Bedürfnis hin, Carolyn Van Slyke als Person auszulöschen. Auf einen Hass, der so groß war, dass es nicht reichte, ihr das Leben zu nehmen, um ihn zu besänftigen.
Wenn man Rorys Worten glauben konnte, bewunderte er seine Stiefmutter und verachtete seinen leiblichen Vater. Das konnte ein Hinweis darauf sein, dass er als Kind missbraucht worden war. Kinder verfügten über eine ans Unheimliche grenzende Fähigkeit zu erspüren, dass sie den Erwachsenen, der sie missbrauchte, zufriedenstellen und besänftigen mussten, um zu überleben. Auf Außenstehende wirkte das dann wie tatsächliche Zuneigung. Falls Rory also unter Carolyn zu leiden gehabt und sein Vater ihn nicht beschützt hatte, war es verständlich, dass er ihn dafür hasste und an Carolyn hing.
Allerdings war Rory kein Kind mehr. Er war zwar kein kräftig gebauter junger Mann, aber stark und gut in Form. Sobald das Kind erwachsen wurde, änderte sich das Muster und ließ eine weitere Bandbreite an Reaktionen zu. Bei einem erwachsen gewordenen Opfer war mit den verschiedensten Verhaltensweisen zu rechnen. Einschließlich einer Wut, die so groß war, dass sie sich in einem Mord Bahn brach, sobald die
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