Blutköder
stellte Anna fest, als sie Zelt und Ausrüstung zum Essbereich und Ponces provisorischer Koppel, einem Geländer zum Anbinden zwischen Essbereich und Toilettenanlage, schleppte. Sie wurde von einem drängenden Bedürfnis ergriffen, sein Zelt zu durchsuchen. Am gestrigen Abend hatte der aalglatte Kerl sie abblitzen lassen. Sie hatte den Korb verfehlt oder den Ball verloren, und es war schwer zu ermitteln, was für ein Spiel McCaskil trieb. Als Privatmensch hätte sie der Versuchung vielleicht nachgegeben. Doch als Bundespolizistin durfte sie es nicht. Selbst in einem Zelt in der Wildnis konnte sich ein amerikanischer Staatsbürger auf die Unverletzlichkeit der Wohnung berufen. Beweismittel, die bei einer nicht genehmigten Durchsuchung sichergestellt wurden, waren unzulässig, was den Ermittlungen eher geschadet hätte, als ihnen zu nutzen.
Nach einer Mütze voll Schlaf und etwas Essbarem war Ponce in besserer Stimmung als am Vortag. Außerdem wog Anna nicht so viel wie die Lasten, die er sonst zu tragen gewöhnt war. Also machten sie sich gemächlich auf den Weg nach Westen. Ponce hielt Ausschau nach Leckereien, die sich im Vorbeigehen abpflücken ließen, während Anna nicht wusste, wonach sie eigentlich suchte. Da es keine Indizien in Form von Spuren oder Unterlagen gab und die magere Liste der Verdächtigen bereits bis zur Erschöpfung abgegrast worden war, beschloss sie, zum Tatort zurückzukehren. Aller guten Dinge sind drei, sagte sie sich, und fragte sich im nächsten Moment, wer sich diesen albernen Spruch wohl ausgedacht haben mochte. Das wahrhaft Schöne war es, auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen, über sich den grenzenlosen Himmel, kein Mensch weit und breit, vor dem man sich rechtfertigen musste, und das einen ganzen Tag lang.
Das Reiten auf ebenen, ausgebauten Pfaden war ein erfreulicher Luxus. Doch als Anna abstieg und Ponce an den Baum band, wo Joan und der aufgebrachte Ranger gewartet hatten, während sie und Ruick durchs Unterholz zu der Leiche marschiert waren, wurde sie daran erinnert, dass sie schon einige Zeit nicht mehr auf einem Pferd gesessen hatte. Das kleine Polster an ihrem Hinterteil war seitdem noch mehr geschrumpft, und die Knochen protestierten nach der kilometerlangen Misshandlung.
Ein Streifen orangefarbenes Flatterband markierte die Stelle, wo die Leiche aus dem Gebüsch geholt worden war. Anna zwängte sich ins Unterholz und machte sich an den steilen Abstieg durch die von Erlen dicht bewachsene Schlucht. Da sie allein und ausgeruht war und die Sonne schien, hatte sie Gelegenheit, den inzwischen ausgetretenen Pfad genauer in Augenschein zu nehmen. Sie entdeckte nichts als eine weggeworfene Schachtel Good & Plenty. Sie war vor dem Mord noch nicht da gewesen, denn die Pappe war nicht vom Regen durchweicht. Anna wusste, dass sie selbst sie nicht fallen gelassen hatte. Von Harry stammte sie ganz sicher auch nicht. Außerdem auf gar keinen Fall von einem Ranger. Ranger litten zwar an den gleichen Schwächen wie der Durchschnitt der Bevölkerung, also auch an Vorurteilen, Dummheit, Engstirnigkeit und Böswilligkeit. Allerdings war Anna noch nie einem einzigen Ranger begegnet, der seinen Müll in die Landschaft geworfen hätte. Deshalb war in den Tagen seit dem Abtransport der Leiche offenbar ein schlecht erzogener Zivilist am Tatort gewesen.
Mit Ausnahme von Brandstiftern, die sich gerne an den Früchten ihrer Arbeit erfreuten, kehrten die meisten Verbrecher nicht zum Tatort zurück. Natürlich konnte es auch ein neugieriger Tourist gewesen sein, der auf unerklärliche Weise erfahren hatte, wo die Leiche gefunden worden war. Vielleicht ja auch ein Wanderer, der sich zufällig diese Stelle ausgesucht hatte, um seine Blase zu erleichtern und seine Taschen zu leeren. Dennoch verstaute Anna die Bonbonschachtel in einem Beutel, beschriftete diesen mit Tag, Uhrzeit und Fundort und steckte ihn ein. Man konnte ja nie wissen.
Die Schachtel Good & Plenty war das einzig Spannende, das dieser Ort zu bieten hatte. Anna durchwühlte das Laub auf der unregelmäßig geformten Lichtung, wo Gary über Mrs Van Slykes Leiche gestolpert war, kroch ins angrenzende Gebüsch, untersuchte Baumstämme, um die sich Gräser rankten – und fand nichts.
Schließlich legte sie sich mit einem kindlich-wohligen Gruseln genau dorthin, wo auch Carolyn gelegen hatte, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und dachte über die eindeutig feststehende Tatsache nach, dass sie unter den Lebenden weilte, sich jedoch
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