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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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loszulassen. Als Anna ihren Tee trank, senkte sich Nebel, so weiß wie Watte aus dem Drogeriemarkt, federleicht und flüssig in der Beschaffenheit, von der schroffen Felswand im Osten auf sie herab.
    Langsam, lautlos und auf unheimliche Weise majestätisch hüllte er die Felsspitzen ein, schlüpfte zwischen ihnen hindurch und schwebte in Richtung der Wiesen. Im nächsten Moment, der so vollkommen war, dass er ewig zu dauern schien, verfärbten sich die weißen Schwaden in ein atemberaubendes Flamingorosa.
    Auf die dem Menschen eigene unzulängliche Weise versuchte Annas Gehirn, das Schauspiel einzuordnen: Lava, Chiffon, Schlagsahne, gefrorenes Feuer. Ihre kläglichen Sprachbilder waren rasch erschöpft, sodass sie eine glückselige Weile dasaß und hinsah, ohne zu denken.
    Das Rosa verblasste zu Grau. Der Tee wurde kalt. Aus irgendeiner feuchten Lunge des Berges fauchte ein Wind empor. Anna setzte sich in Bewegung. Sie hatte noch eine lange Dämmerung vor sich, mindestens eine Stunde, in der es hell genug sein würde, mindestens einen der anderen Zeltplatzbewohner aufzuspüren und ihn ein bisschen zu ärgern.
    Inzwischen war McCaskil von seinem Tagesausflug zurück. Als Anna sich langsam seinem Zelt näherte, schlüpfte er gerade aus den Riemen seines Rucksacks. Sein dichtes, gewelltes Haar war zerzaust. Einige Stückchen Hochlandflora hatten sich in dem Nest verfangen. Er war querfeldein gegangen, und zwar in Stiefeln, die so neu waren, dass sie ihm die Füße wundgescheuert hatten. Das erkannte Anna daran, dass er das Gesicht verzog, als er sich vorsichtig seiner Fußbekleidung entledigte. Ein selbstbewusster Mann, ein aalglatter Städter, ein Neuling, quälte seinen naturfernen Körper durchs Unterholz. Was erhoffte er sich dort? Spirituelle Erleuchtung? Nach seiner missmutigen Miene zu urteilen, hatte er sie nicht gefunden.
    »Hallöchen«, begrüßte ihn Anna, nur um ihm zuzusetzen.
    »Ach, Sie sind es«, erwiderte er abweisend.
    Anna deutete das als Einladung und ließ sich gemütlich unter einer verkümmerten Fichte nieder. Nebel waberte über den Zeltplatz. Der Abend war mittlerweile nicht mehr kühl, sondern kalt. Anna setzte die Kapuze ihrer Fleecejacke auf und beobachtete McCaskil, der in Hemdsärmeln zitternd dastand und sie unter wohlgeformten Augenbrauen hervor finster ansah.
    »Sie frieren ja«, verkündete Anna. »Warum ziehen Sie keine Jacke an?«
    »Ich friere gern. Außerdem bin ich gern allein. Nehmen Sie es nicht persönlich.« Darauf folgte ein Lächeln, als wäre ihm ein wenig zu spät die uralte Warnung vor zurückgewiesenen Frauen eingefallen. »Das gilt natürlich nicht für schöne Frauen.« Die erste Aussage war von Herzen gekommen. Die zweite wirkte eher wie eine Nebelkerze.
    Was er auch immer dahinter zu verbergen hoffte, es blieb tatsächlich im Verborgenen. Anna war ihm in dieser Hinsicht nicht gewachsen. Sie hatte zwar einige Jahre Zeit gehabt, um sich die Kunst anzueignen, wie man anderen Menschen Informationen entlockte, aber McCaskil übte sich vermutlich schon doppelt so lang in Lug, Trug und Irreführung.
    Heute Abend hatte er sich offenbar für das Instrument des Flirts entschieden. Jede von Annas Fragen wurde mit einem Kompliment abgeschmettert, jede ihrer Bemerkungen mit einer Zweideutigkeit pariert. Nach fünfzehnminütigen vergeblichen Bemühungen wurde ihr klar, dass sie beim ersten Mal Glück gehabt und ihn überrumpelt hatte. Aus irgendeinem Grund hatte er inzwischen beschlossen, sich hinter einer Mauer zu verschanzen. Wenn sie etwas Hilfreiches von ihm erfahren wollte, brauchte sie einen Rammbock. Anna spielte mit dem Gedanken, seine Fassade eines Playboys zum Einsturz zu bringen, indem sie ihr Wissen um seine Verurteilung wegen Betrugs in die Unterhaltung einfließen ließ. Doch sie war nicht sicher, was sie damit erreichen wollte. Außerdem hatte sie den starken Verdacht, dass er damit rechnete und darauf vorbereitet war.
    Einige Male gelang es ihr, ihm ein Gespräch über Carolyn Van Slyke aufzuzwingen. Im Laufe der vergangenen Tage war McCaskils Bekanntschaft mit der Verstorbenen zunehmend flüchtiger geworden. Bei ihrem ersten Gespräch vor drei Tagen hatte er sie noch als »die Blondine« bezeichnet und sie beim Vornamen genannt. Mittlerweile hatte sie sich in »die Frau, die von einem Bären gefressen wurde« verwandelt.
    Da Carolyn durch die Hand eines Mörders ums Leben gekommen war, wunderte sich Anna über McCaskils offenkundige Gewissheit, dass ihr Tod eine

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