Blutköder
erträglich machte – den Frieden und die Vollkommenheit der Natur.
Wut half zwar, heilte aber nicht. Annas Wut bestand aus zwei Teilen Selbstmitleid und einem Teil Bedürftigkeit. Allerdings fehlten ihr der Eigenantrieb und die glühend heiß lodernde Flamme eines rechtmäßig erworbenen Zorns. Anna hielt sie lang genug am Leben, um zumindest den Kern ihrer Panik auszubrennen, bis sie darauf vertrauen konnte, dass sie nicht vom Baum fallen oder hysterisch kreischend den Pfad entlangstürmen würde.
Als ihr Atem wieder regelmäßig ging, wusste sie, dass sie bleiben und ihre Arbeit erledigen würde. Doch ihr Seelenfrieden, die Freude und die Freiheit, die die Wildnis ihr sonst schenkte, waren ihr gestohlen worden. »Mist«, flüsterte sie und schickte ein fröhliches Stoßgebet zum Himmel: »Lieber Gott, mach, dass ich in meinem Rucksack eine Pistole finde, wenn ich von diesem Baum geklettert bin. Viele Grüße, Anna.«
Obwohl es einige Stunden dauern würde, bis die Verstärkung eintraf, funkte sie Ruick an, um ihm von ihrem Fund zu berichten. Hauptsächlich, wie sie sich eingestehen musste, um ihren eigenen Standort durchzugeben. Falls sie spurlos verschwinden sollte, würde Ponce ein Hinweis darauf sein, wo sie den Pfad verlassen hatte. Aber wer würde auf den Gedanken kommen, so weit entfernt an der Fichte mitten im Unterholz zu suchen?
Da Harry in einer Sitzung war, notierte sich Maryanne die Nachricht.
Anna blieb nichts anderes übrig, als den Funkspruch abzubrechen.
Sie zuckte bei jedem Geräusch zusammen und erstarrte bei jedem Schatten, als sie die geschändete Fichte mehrmals hinauf- und hinunterkletterte, fotografierte und die zerfetzten Beutel einsammelte. Das darin enthaltene Fleisch war längst fort. Das gefiederte oder bepelzte Raubtier, das es aus den Beuteln gezerrt hatte, hatte es weggeschleppt und zweifellos aufgefressen. Ein Jammer, dachte Anna. Eine andere Möglichkeit war, dass der Mörder es – falls er kein Anhänger von Hannibal Lecters Kochkünsten war – mitgenommen hatte, und zwar nicht um es zu essen, sondern um seine Identität zu verschleiern.
Aber warum hatte er es in den Baum gehängt, wenn er nur seine Täterschaft geheim halten wollte? Es wäre doch naheliegender gewesen, das verräterische Fleisch auffressen zu lassen, es zu vergraben oder es den Elementen auszusetzen, damit es schneller verweste. Wenn jemand etwas versteckte, bedeutete das, dass er vorhatte, zurückzukommen und es zu holen.
Obwohl sich kein Vogel im Laub regte und sich kein Schatten im Wind bewegte, hielt Anna den Atem an, lauschte und verfluchte die Götter, die ihr Flehen um eine Schusswaffe nicht erhört hatten. So rasch wie möglich beschriftete sie jedes Fundstück und verpackte es in einem Asservatenbeutel aus Papier, damit sich die Blutproben besser hielten. Der marineblaue Stoffsack war mindestens einige Jahre alt und von REI hergestellt und kam so häufig vor wie Unterhosen aus Baumwolle. Das gleiche galt für die Beutel und das Stück Poncho: Durchschnittsware, leicht zu beschaffen und in einem Nationalpark allgegenwärtig. Die zu einem Seil aneinandergeknoteten Stoffstreifen stammten offenbar von einem Hemd. Der Stoff hatte auch nichts Bemerkenswertes an sich. Vermutlich aus einer Kaufhauskette wie J.C. Penney oder Sears, ein Baumwoll-Polyester-Gemisch, das massenweise verkauft wurde. Falls sich das Hemd, von dem die Streifen abgerissen worden waren, jedoch am Körper des Mörders befunden hatte, konnte sich das als aufschlussreich erweisen.
Allerdings nahm Anna sich nicht die Zeit, die Beweise zu untersuchen, so bedeutsam oder unwichtig sie auch sein mochten. Sorgfältig, wie sie es gewohnt war, verpackte sie alles und steckte es ein. Dabei patrouillierten Verstand, Augen und Ohren im Umkreis des Baumes, immer auf der Suche nach Kannibalen, Bären, Axtmördern und anderen gewalttätigen Kreaturen.
Endlich war alles erledigt und jedes Beweisstück im Rucksack verstaut. Da nun die Möglichkeit zur Flucht bestand, stellte Anna fest, dass ihr Unbehagen zunahm. »Reiß dich zusammen«, befahl sie sich gnadenlos. Bevor sie verschwinden konnte, musste sie die Lichtung – nur für den Fall, dass sie etwas übersehen hatte – noch einmal durchkämmen.
Genau einen Meter vierundsechzig Komma acht – wie Anna ihrem eigens zu diesem Zweck mitgeführten Maßband entnahm – vom Baum entfernt und in nord-nordwestlicher Richtung entdeckte sie einen Haufen, bei dem es sich nur um Bärenkot handeln
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