Blutköder
erleichtert zuhielt. Ihre Vermutung, dass hier der Schlusspunkt der Blutspur war, begründete sich nicht auf das, was sie vorfand, sondern auf das, was fehlte. Eine dreiviertelstündige sorgfältige Suche rings um den Baum ergab keine weiteren Blätter mit Rostflecken. Da die Spur über ihrem Kopf begonnen hatte, ging Anna in die Hocke und musterte das dichte grüne Astwerk der Fichte.
Diesmal wurde sie rasch mit einem Ergebnis belohnt. In etwa vier bis fünf Metern Höhe hing, mit einer undefinierbaren Schnur an einem Ast befestigt, ein marineblauer Stoffbeutel, aus dem – ehemals – durchsichtige Stücke Plastikfolie quollen. Alles war zu Fetzen zerrissen, vermutlich von den Krallen eines Vogels, obwohl auch ein Luchs, ein Puma oder sogar ein sehr geschickter Fuchs als Übeltäter infrage kamen. Ansonsten konnte Anna sich kein Raubtier mit Tatzen und Krallen vorstellen, das sich in Vogelgefilde vorgewagt hätte.
Da die Rinde am Baumstamm unversehrt war, war die Person, die den Sack dort deponiert hatte, nicht hinaufgeklettert. Anna nahm den Rucksack ab und stieg auf den Baum, um sich die Angelegenheit aus der Nähe anzusehen. Nachdem sie sich rittlings auf einen kräftigen Ast gesetzt hatte, versuchte sie, die Informationen zu deuten.
Sie brauchte nicht lang. Und die Erkenntnis brachte eine eiskalte Furcht mit sich, die sie trotz des warmen Nachmittags erschaudern ließ. Das zerrissene Plastik war ebenso blutverschmiert wie die Blätter und stammte aus einer Reihe verschiedener Quellen: zwei aufgeschnittene Sandwichbeutel und ein Zipfel eines Gegenstands, der sich gewiss als Saum eines billigen Regenponchos entpuppen würde, die man an Tankstellenkassen bekam und für den Fall eines plötzlichen Schauers in der Tasche oder im Kofferraum mit sich führte. Der marineblaue Stoff gehörte zu einem einfachen Sack, wie ihn Wanderer zum Verstauen nicht dringend benötigter Gegenstände benutzten. Der vorliegende Sack hatte einen Durchmesser von zwanzig bis fünfundzwanzig Zentimetern und etwa die doppelte Länge. Er war offenbar mit einer Seilwinde auf den Baum geschafft worden. Abgerissene Fädchen hingen in der Rinde, wo jemand das improvisierte Seil über einen Ast geworfen und angezogen hatte. Das Seil selbst war mit einem Laufknoten gesichert, ebenso provisorisch wie die Verpackung, und bestand aus weißen zusammengeknüpften Stoffstücken mit schmalen blauen Streifen.
Carolyn Van Slykes Gesicht war verstümmelt worden. Dann hatte der Täter die blutigen Fleischstücke wie eine Trophäe oder eine Mannschaftsfahne hoch über seinem Kopf gehisst und dabei Blutspuren im Laub hinterlassen. Ein Stück entfernt von der Leiche, hatte der Mörder die Scheiben in das Material verpackt, das ihm zur Verfügung stand – Sandwichtüten und ein Regenmantel – und sie dann in einen Sack gesteckt, in dem er vielleicht zuvor sein Mittagessen mit sich herumgetragen hatte. Und zu guter Letzt hatte er seinen Schatz, unerreichbar für Bären und andere Tiere, hoch oben in einem Baum versteckt.
Er hatte sich Carolyn Van Slykes Gesicht für später aufgehoben.
15
Anna hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als so schnell wie möglich zu verschwinden. Jeder einzelne Tag in dieser wundervollen Landschaft hatte ihr eine Kehrseite gezeigt, einen Hinweis darauf, dass Gottes eigenes Land von seinen Unglücksboten belagert wurde. Die in Annas Augen teuflischste Vernichtungswaffe war auf sie alle losgelassen worden: Furcht. Die Furcht war die Wurzel allen Übels und Voraussetzung für sämtliche anderen Sünden. Gier war nichts anderes als eine krankhafte Furcht davor, in Not zu geraten. Lügen entstanden aus der Furcht, durchschaut oder für seine Taten bestraft zu werden.
Das merkwürdige Verhalten des Bären, Rorys unerklärliches Verschwinden, ein sinnloser Mord und nun dieses Grauen. Jetzt breitete die Furcht sich auch in Annas Verstand aus. Umgeben von Dingen, die ihr sonst eigentlich Trost spendeten, wurde sie davon überschwemmt. Einen Moment klammerte Anna sich an den Ast und kämpfte gegen den verzweifelten Drang an, vor der Wildnis, dem Sonnenlicht und dem Alleinsein zu fliehen und sich in einem geschlossenen dunklen Raum voller vertrauter Gesichter zu verkriechen.
»Verdammt«, murmelte sie. In ihren inzwischen mehr als vierzig Lebensjahren hatte ihr das Schicksal den Mann geraubt und einen fast tödlichen Anschlag auf ihre einzige Schwester verübt. Sie weigerte sich schlichtweg, sich das nehmen zu lassen, was alles andere
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