Blutköder
eines Tages ganz sicher zu den Toten gesellen würde. Laut Molly stellten sich Grübeleien über die eigene Sterblichkeit für gewöhnlich mit dem fünfzigsten Geburtstag ein. Bis dahin hatte Anna zwar noch ein paar Jahre, aber schließlich war sie schon immer frühreif gewesen.
Und da sie nun frei von der Erwartungshaltung war, etwas Bestimmtes sehen zu wollen, bemerkte sie es endlich.
In Polizeilehrgängen predigten die Kursleiter den Teilnehmern unermüdlich, man dürfe niemals vergessen, nach oben zu schauen. Aber im richtigen Leben vergaß man es eben doch. Beweise in Baumkronen wurden meist nicht bemerkt, wenn sie einem nicht regelrecht entgegensprangen. Die beiden Male, die Anna diese Schlucht hinuntergeklettert war, hatte sie oberhalb ihrer Augenhöhe nur wenig wahrgenommen.
Oben im Gebüsch – im Liegen nur schwer abzuschätzen, aber vermutlich einsachtzig bis zwei Meter über ihr – wies eine Handvoll der staubig wirkenden Blätter Streifen auf. Hätten sich die beschmutzten Blätter nicht so weit über dem Boden befunden, Anna wäre davon ausgegangen, dass ein nach dem Regen und der Bergung der Leiche schlammiger Stiefel sie berührt hatte. Doch in dieser Höhe, in der es eigentlich keine Spuren geben konnte, waren sie weniger von Interesse.
Pflanzen konnten wie alle anderen Lebewesen erkranken, sterben und Opfer von Schimmelpilzen, Sternrußtau oder Schädlingen werden. Da Anna sich nicht gut genug mit der Pathologie von Montanas Flora auskannte, um eine Diagnose zu stellen, ließ sie ihre Gedanken schweifen – und zwar weit genug, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass sonst keine anderen Blätter oder Büsche befallen waren.
Das Gestrüpp rings herum schien näher zu rücken. Anna fühlte sich beengt. Zweige bohrten sich in ihre Seiten. Blätter verfingen sich in ihrem Haar. Magere, in Rinde gehüllte Finger kratzten an ihren Armen. Ein trügerisches Licht trieb seine Spiele mit den Schatten, die das Laub warf. Es schwankte in einem Wind, der den Boden nur knapp erreichte. Eine stickige, staubige Hitze juckte auf Annas Haut.
Zeit, diesen makabren Rastplatz zu verlassen. Anna stand auf und lehnte sich ins Gebüsch, um eines der beschmutzten Blätter abzupflücken. Die rostfarbenen Flecken waren vom Regen verschmiert. Allerdings hatten die Blätter darüber sie geschützt, sodass genug für eine Untersuchung übrig geblieben war. Verschiedene Stellen waren mit getrocknetem Blut bespritzt, ein Stoff, mit dem Anna sich in ihrem Beruf bei verschiedenen Gelegenheiten ausgiebig vertraut gemacht hatte. Ein Speicheltest verwandelte das Braun wieder in Rot. Anna nahm eine kleine Papiertüte aus ihrem Rucksack und sammelte einige der Blätter ein. Blut in Bäumen kam nicht so selten vor, wie man vermuten mochte. Schließlich kreisten Raubvögel am Himmel. Die dünnen Zweige waren zwar zu schwach, um einem fressenden Falken oder Adler Halt zu bieten, doch hin und wieder ließen die Vögel verwundete Beutetiere fallen. Wenn es sich so abgespielt hatte, hatte ein Glückspilz von einem Bodenbewohner den Kadaver des kleinen Tiers längst weggeschleppt.
Nachdem Anna ihren blutigen Fund in einer Innentasche verstaut hatte, verharrte sie abwartend zwischen den Erlen. Mittlerweile waren die Fliegen auf sie aufmerksam geworden. Bremsen mit Kiefern wie geflügelte Chihuahuas starteten Kamikazeangriffe auf Annas Kniekehlen. Geistesabwesend beförderte sie die Plagegeister mit Schlägen ins Jenseits.
Schließlich stieß sie auf das, wonach sie gesucht hatte: noch ein Büschel blutiger Blätter, ein paar Meter tiefer im Gebüsch. Den Kopf gesenkt, steuerte Anna vorsichtig darauf zu und hielt dabei Ausschau nach weiteren Anzeichen auf dem Boden oder unten im Gebüsch. Das Regenwasser hatte mögliche Spuren ausgelöscht, und die kräftigen Erlen verrieten nicht, ob jemand hier vorbeigekommen war.
Nachdem Anna das zweite Büschel beschmutzten Laubes erreicht hatte, wiederholte sie die Prozedur. Es dauerte zwei verschwitzte und von Stechfliegen gejagte Stunden, die Spur bis zu ihrem Ende nachzuverfolgen. Inzwischen war es kurz vor zwölf Uhr mittags. Als Vogel hätte Anna in wenigen Sekunden vom Fundort der Leiche bis zu der Fichte fliegen können, wo die Blutspur abbrach. Die beiden Stellen trennten gerade einmal zwanzig Meter.
Eine Stechfichte erhob sich anmutig aus dem Unterholz. Wegen ihres Schattens und des Säuregehalts der abgefallenen Nadeln war eine kleine kahle Fläche unter den Ästen entstanden, auf die Anna
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