Blutköder
natürliche, wenn auch furchterregende Ursache hatte. Als sie ihn danach fragte, tat er den Einwand ab. »Wie auch immer«, meinte er gleichgültig. »Vermutlich habe ich nicht richtig zugehört.«
Anna beendete das Plauderstündchen und verabschiedete sich. Als sie sicher war, außer Hörweite zu sein, funkte sie Ruick an. Er hatte zwar schon seit einigen Stunden Feierabend, doch Anna hielt ihn für einen Menschen, der das Funkgerät rund um die Uhr laufen ließ. Sie behielt recht.
»Ich habe so ein Gefühl«, sagte sie. »Gleichen Sie die Fingerabdrücke auf der zweiten topografischen Karte, die bei Van Slykes Leiche gefunden wurde, mit der Datenbank ab. Die Karte, die in der Tasche der Militärjacke steckte.«
Der Polizeichef versprach, es zu tun, ohne Fragen zu stellen. Dass man anfing, sich schwammig und geheimnisvoll auszudrücken, war in der Polizeiarbeit Berufsrisiko. Entweder hatte Harry sich daran gewöhnt, oder er war überzeugt, dass Annas »Gefühl« ebenso belanglos wie unbedeutend war.
Dankbar, ihre noch unreife Theorie nicht der rauen Wirklichkeit von Substantiven und Verben aussetzen zu müssen, war es Anna herzlich gleichgültig, was davon zutraf.
Anders als Anna befürchtet hatte, war der Nebel kein Vorzeichen auf einen weiteren kalten und regnerischen Tag gewesen. Bei Sonnenaufgang war er weitergezogen, hatte sich gelichtet oder war eben einfach verschwunden. Der Tag entpuppte sich als so angenehm, wie es nur ein Sommertag im Hochgebirge sein konnte: gleichzeitig erfrischend und warm, mit einer Brise auf der einen Wange und strahlendem Sonnenschein auf der anderen. Nichts als Luft lag in der Luft. Weder die aufdringliche Schwüle des Südens noch der faulige Beigeschmack städtischen Gestanks oder der belebende Salzgeruch an der Küste. Sie war so klar, dass Anna glaubte, sie einfach durch die Poren ihrer Haut aufnehmen zu können, falls sie aufhören sollte zu atmen.
Joan war mit Rory und Buck in Richtung West Flattop Trail aufgebrochen, um wieder auf der kleinen Wiese mit dem großen flachen Felsen das Lager aufzubauen. Auf den ersten Blick erschien das unklug, denn Bären schlugen, wie Blitze, häufig zweimal am selben Ort zu. Allerdings hatte Joan eine Reihe von Gründen, noch einmal dort zu campieren. Der erste, da war Anna sicher, war ein schwerer Fall von selektivem Gedächtnis und Folge einer wohlwollenden Einstellung gegenüber dem Ursus horribilis. Ihr war nicht entgangen, dass Joan nicht mehr davon sprach, dass der Bär das Lager verwüstet, zerstört oder dem Erdboden gleichgemacht hatte. Inzwischen hatte er es nur noch in Unordnung gebracht. Die übrigen Motive der Wissenschaftlerin klangen hingegen vernünftig. Es gab keinen besseren Lagerplatz in der Nähe der Haarfalle, die sie hatten demontieren und versetzen wollen, bevor das Schicksal ihr Vorhaben mit anderen Plänen durchkreuzt hatte. Außerdem hatte der Bär keine Beute in Form von Nahrung gemacht. Und das hieß für jemanden, der Bären erforschte, dass er vermutlich nicht wiederkommen würde.
Da Anna unbelastet von wissenschaftlichem Denken war, konnte sie sich des Einwands nicht erwehren, dass der Bär, dieser Bär, ihr ganz persönlicher Bär, überhaupt nicht nach Futter gesucht hatte. Welche Absichten ein wildes, noch nicht durch den Kontakt mit dem Menschen verdorbenes Tier sonst verfolgt haben mochte, wollte sie lieber nicht aussprechen. Allerdings fiel ihr eine Erzählung mit dem Titel »Der Geist und die Dunkelheit« ein. Es war die wahre Geschichte von zwei Löwen – die wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge stets allein jagten und menschliche Ansiedlungen instinktiv mieden –, die sich miteinander verbündet hatten, einfach nur, um nach Lust und Laune Schrecken zu verbreiten und Menschen zu töten.
Menschen konnten den Verstand verlieren. Was also machte Anna so sicher, dass das bei Tieren, wenn auch selten, nicht ebenfalls vorkam? Insbesondere bei einem Tier, das klüger war als seine Artgenossen. Klüger, als ihm guttat.
»Weiche von mir, Dean Koontz«, sagte sie laut. Ihr wurde klar, dass sie mitten an einem strahlend schönen Tag in einen Albtraum geglitten war. Joan hatte recht. Die Wiese war ein guter Lagerplatz. Wenn nichts Unvorhergesehenes dazwischenkam, würde Anna sich heute Abend dort mit ihr und den Jungen treffen. Bis dahin plante sie, den Tag und das Alleinsein zu genießen und ihren Auftrag nach bestem Wissen und Gewissen auszuführen.
William McCaskil schien nicht zu Hause zu sein,
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