Blutkrieg
Wort
über Bord.
Er hatte damit gerechnet, dass das Wasser kalt sein würde,
aber es war so eisig, dass es ihm im ersten Moment nicht nur
den Atem verschlug, sondern ihm auch schwarz vor Augen
wurde. Es waren wohl seine seit Jahrhunderten antrainierten
Reflexe, die ihn dazu brachten, sich mit zwei schnellen,
kraftvollen Bewegungen wieder an die Oberfläche zu arbeiten
und einen tiefen Atemzug zu nehmen. Abu Dun stand hinter
dem, was einmal die Reling gewesen war, starrte noch immer
ungläubig zu ihm herab und rief irgendetwas, das Andrej nicht
verstand, denn nicht nur das Heulen des Sturmes hatte
zugenommen, auch durch seine Ohren rauschte sein eigenes
Blut so laut, dass es fast jedes andere Geräusch übertönte … und
war da nicht noch etwas? Ein Schrilles, misstönendes Krächzen?
Andrej schüttelte diesen Gedanken ebenso ab wie nahezu alle
anderen, unterdrückte den Impuls, zum Horizont zu blicken, um
nachzusehen, wie weit das nächste Unwetter noch entfernt war,
und drehte sich wassertretend auf der Stelle, bis er den ersten
davontreibenden Leichnam erblickte. Er war bereits weiter
entfernt, als er angenommen hatte, und Andrej begriff, dass ihm
weniger Zeit blieb als ohnehin befürchtet. Rasch griff er aus,
erreichte sein Ziel mit wenigen, kräftigen Stößen und packte den
Leichnam, um ihn zurück zur Schwarzen Gischt zu bringen.
Der Ausdruck puren Unglaubens auf Abu Duns Zügen hatte
sich nicht geändert, und im ersten Moment rührte er sich auch
nicht, sondern starrte nur kopfschüttelnd auf Andrej und seine
schreckliche Fracht hinab. Erst, als Andrej ihm unwillig mit der
freien Hand bedeutete, dass er Hilfe brauchte, ließ er sich auf die
Knie sinken, griff nach unten und hievte den Leichnam ohne die
geringste sichtbare Anstrengung zu sich herauf. »Würdest du
mir jetzt vielleicht verraten, was -?«
Andrej hörte nicht hin, sondern machte sich sofort wieder mit
schnellen Schwimmbewegungen auf den Weg zum nächsten
Toten. Auch dieser war weiter entfernt, als er gehofft hatte, und
als er sich auf dem Rückweg zum Schiff befand, stellte er fest,
dass der Sturm zu allem Überfluss zurückkam. Blitze flackerten
in immer rascherer Folge, und auch das Donnergrollen war
hörbar lauter geworden. Das Meer war schon lange nicht mehr
glatt, und es schien ihm, als würde das Wasser mit jedem
Atemzug kälter, zu dem er sich zwang. Trotzdem zögerte er
nicht, auch diesen Leib zurück zum Schiff zu bringen.
Er barg auch den dritten Toten und auch noch den vierten,
doch als er sich auf den Weg zu der letzten wegtreibenden
Leiche machte, holte ihn der Sturm ein. Schon während der
letzten Minuten war er kontinuierlich näher gekommen, dann,
schlagartig und von einem keuchenden Atemzug zum nächsten,
brach er über sie herein, ein brüllendes Inferno, das das Meer in
einen kochenden Hexenkessel verwandelte und mit unsichtbaren
Fäusten auf das winzige Schiffchen einschlug. Andrej wurde
unter Wasser gedrückt und hilflos hin und her geworfen. Seine
Atemluft verwandelte sich in einen Vorhang aus silbernen
Perlen, der vor seinen Augen in die Höhe stieg, bevor ihn die
erbarmungslose Strömung zerriss. Irgendetwas schlug mit der
brutalen Gewalt eines Hammerschlages gegen seine Rippen und
Andrej verlor die Orientierung. Für einen Moment wusste er
nicht mehr, wo oben oder unten war, rechts oder links. Panik
griff nach seinem Herzen und drückte zu. Seine Lungen
brannten, und das Bedürfnis, zu atmen, wurde immer
drängender.
Etwas stieß gegen sein Gesicht. Andrej warf sich herum, mit
aller Kraft gegen den drückenden Strom arbeitend, erblickte eine
schemenhafte Gestalt und öffnete den Mund zu einem Schrei
des Entsetzens, als er in das graue, aufgedunsene Gesicht eines
Toten blickte. Auch noch sein allerletzter Rest kostbarer
Atemluft explodierte aus seinem Mund, und brennendes
Salzwasser grub sich mit feurigen Klauen in seine Kehle. Seine
Sinne begannen zu schwinden. Mit toten, erstarrten Fingern
krallte sich der Leichnam in seine Schultern und sein Haar,
tastete nach seiner Kehle und trieb ihn mit einem einzigen
gewaltigen Ruck zurück an die Wasseroberfläche.
Andrej riss mit einem gurgelnden Schrei den Mund auf und
schnappte verzweifelt nach Luft, aber es ging nicht. Brennendes
Salzwasser füllte noch immer seine Kehle. Sein Hals war
verkrampft, seine Lungen brannten, als hätte er versucht, Säure
zu atmen, und vor seinen Augen loderten rote Schleier aus
reinem
Weitere Kostenlose Bücher