Blutkrieg
schwarzem Wasser, mit denen der Wind spielt. Zugleich war es
Andrej aber auch, als erahne er hinter dem sichtbaren Bild der
Dinge noch etwas Anderes, Unsichtbares, das geduldig hinter
den verletzlichen Schleiern der Wirklichkeit lauerte. Für einen
einzelnen, schrecklichen Moment glaubte er, nicht das Bild
zweier Raben zu sehen, sondern die Umrisse anderer, größerer
und schrecklicherer Geschöpfe, die dort oben hockten und mit
Augen aus geronnener Bosheit auf Abu Dun und ihn
herabstarrten; unheimliche Geschöpfe mit Schwingen und
Krallen und schrecklichen Schnäbeln, die zu nichts Anderem als
zum Zerreißen und Töten und Verstümmeln geschaffen waren.
Das Flackern des Blitzes erlosch, und als sich seine Augen
wieder an die fast vollkommene Schwärze gewöhnt hatten, war
der unheimliche Spuk vorbei.
»Was hast du, Hexenmeister?«, erkundigte sich Abu Dun.
Seine Stimme klang besorgt.
»Nichts«, antwortete Andrej, vielleicht eine Spur zu hastig,
unterstrich seine Worte mit einem noch sehr viel weniger
überzeugenden Kopfschütteln und riss seinen Blick mit
bewusster Willensanstrengung von den beiden unheimlichen
Schemen über ihnen los.
Auch Abu Dun sah einen Moment lang konzentriert nach
oben, und obwohl Andrej es nicht wollte, gab doch allein dieser
Versuch dem Trugbilde dort oben mehr Wahrhaftigkeit, als er
ihm zuzugestehen bereit war, las er in dieser kurzen Zeitspanne
doch aufmerksam im Gesicht des Nubiers. Abu Duns Miene
blieb jedoch ausdruckslos; vielleicht spiegelte sich eine Spur
von Verwirrung in seinen Augen, als er den Blick wieder senkte
und Andrej ansah.
»Nichts?«, vergewisserte er sich.
»Nichts«, bestätigte Andrej. Er musste sich getäuscht haben.
Auf der Spiere über ihnen befand sich nichts Unheimlicheres als
ein Paar – zugegeben ungewöhnlich großer – Raben, die sich
vielleicht etwas sonderbar benahmen, vielleicht aber auch nur
ebenso Opfer des Sturms waren wie sie, Abu Dun und er, und
einfach den erstbesten Halt angesteuert hatten, nachdem sie aufs
Meer hinausgetrieben worden waren.
Entschieden wandte er sich wieder zu den Toten um, die im
Wasser neben der Schwarzen Gischt trieben. Die Strömung,
obwohl kaum erkennbar, hatte sie mittlerweile ergriffen und
begann das halbe Dutzend regloser Körper langsam, aber
unerbittlich vom Schiff fortzuziehen. Andrej löste die Schnalle
seines Waffengurtes, ließ Schwert und Gürtel zu Boden fallen
und streifte anschließend mit einer raschen Bewegung den
durchnässten Mantel ab, um ihn Abu Dun zu reichen. Der
Nubier sah ihn verdattert an, griff aber gehorsam zu, und Andrej
streifte mit einiger Mühe auch die Stiefel ab, die schon
normalerweise hauteng saßen, nun aber, hoffnungslos
durchweicht wie sie waren, regelrecht an seinen Füßen zu
kleben schienen. Mit beiden Händen versuchte er, den linken
Stiefel vom Fuß zu ziehen. Abu Dun beobachtete ihn dabei, wie
er auf dem rechten Bein herumhüpfte und dabei eine
einigermaßen alberne Figur abgab, und legte seine Stirn in so
tiefe Falten, dass Andrej fürchtete, der Turban falle ihm vom
Kopf.
»Was tust du da?«, erkundigte sich der Nubier.
»Ich ziehe meine Stiefel aus«, antwortete Andrej. »Es
schwimmt sich schlecht mit Schuhen, weißt du?«
»Aha«, machte Abu Dun erstaunt.
Andrej hatte sich endlich aus seinen Stiefeln geschält,
betrachtete die langsam wegdriftenden, in Segeltuch
eingeschlagenen Leiber vor der Schwarzen Gischt einen
Moment lang schweigend und mit wachsendem Unbehagen und
sagte dann: »Ich werde sie herausholen.«
Abu Dun riss die Augen auf. »Du willst – was?! «
»Wir haben versprochen, sie nach Hause zu bringen«,
erinnerte Andrej ihn. »Nicht, sie ins Meer zu werfen.«
»Hast du jetzt vollkommen den Verstand verloren?« Abu Dun
war fassungslos. Er griff nach Andrej, als wolle er ihn packen
und festhalten, um ihn von seiner verrückten Idee nötigenfalls
mit Gewalt abzubringen, hielt aber dann inne und schüttelte nur
hilflos den Kopf.
»Vielleicht«, gestand Andrej. Aber zugleich war er selten
zuvor in seinem Leben so sicher gewesen, das Richtige zu tun.
Nur dass er Abu Dun nur schwer erklären konnte, warum. Statt
es zu versuchen und noch mehr kostbare Zeit zu verschwenden
(und bevor die Stimme seines Verstandes zu laut werden konnte,
die ihm hysterisch zubrüllte, dass er dabei war, sich in große
Schwierigkeiten zu bringen), wandte er sich hastig um, atmete
noch einmal tief ein und sprang dann ohne ein weiteres
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