Blutkrieg
Horizont. Vielleicht war das aber auch nur ein weiterer
böser Streich, den ihm seine schläfrigen Sinne spielten.
»Und wo ist jetzt dein Gasthaus?«, fragte er erschöpft.
»Ich habe etwas gesehen«, beharrte Abu Dun leise, aber in
einem Ton, der klang, als wolle er noch eine ganze Menge mehr
zu diesem Thema sagen. Schließlich beließ er es aber bei einem
stummen Kopfschütteln und drehte sich schwerfällig wieder in
die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Andrej erschrak, als ihm die einschüchternde Größe der
eisigen Einöde bewusst wurde, die sie umgab, und er zugleich
sah, wie erbärmlich kurz die Strecke war, die sie bisher
zurückgelegt hatten. Der Anblick hinter ihnen unterschied sich
nicht von dem auf der anderen Seite; allenfalls dadurch, dass
dort ein Ozean die eisigen Einöden begrenzte, nicht die Gipfel
eines Gebirges, das nur deshalb nicht von Eis und Schnee
gekrönt war, weil es zur Gänze aus Eis und Schnee bestand.
»Vielleicht sind wir tot«, murmelte Abu Dun, »und das hier ist
die Hölle.«
»Dazu ist es zu kalt«, antwortete Andrej. »Außerdem bist du
hier.«
Abu Dun rang sich zu einem halb gefrorenen Lächeln durch.
»Willst du damit sagen, dass du nicht glaubst, dass ich in die
Hölle komme?«
»Das musst du schon mit deinem eigenen Gott ausmachen«,
erwiderte Andrej. »Falls es so etwas wie Gott und eine Hölle
gibt, dann werde ich mich ganz bestimmt dort wiederfinden.
Aber nicht einmal der Teufel kann so grausam sein, mich dort
auch auf dich treffen zu lassen.«
»Bei allem, was du Gutes in deinem Leben getan hast?«, fragte
Abu Dun spöttisch.
»Eine Untat, die so schlimm wäre, um auf diese Weise bestraft
zu werden«, antwortete Andrej, »würde mich wohl zum größten
Konkurrenten des Teufels machen. Und nähme er jemanden in
sein Reich auf, der ihm vielleicht den Rang abläuft?« Er wartete
vergeblich auf eine Antwort des Nubiers und fügte nach einem
Moment hinzu: »Außer dir, versteht sich.«
Er bekam auch darauf keine Antwort. Dies war so
ungewöhnlich, dass er seine letzten Kräfte zusammennahm, um
sich zu Abu Dun umzudrehen. Dann wurde ihm klar, warum der
Nubier ihm nicht widersprochen hatte.
Abu Dun war verschwunden.
Wo er gerade noch gestanden hatte, nicht einmal eine
Handbreit von Andrej entfernt, gähnte nun ein mehr als ein
Meter messendes kreisrundes Loch mit so perfekten Rändern im
Boden, als wäre es von Menschenhand gestanzt. Andrej starrte
das unglaubliche Bild eine geschlagene Sekunde an, weil sein
Kopf nicht begreifen wollte, was seine Augen sahen. Dann
prallte er zurück, mit hoffnungsloser Verspätung, dafür umso
heftiger, und drehte sich mit einem halblauten Keuchen einmal
um seine eigene Achse. Als ob er nicht genau wüsste, dass der
Nubier verschwunden war und sich nicht etwa heimlich hinter
ihn geschlichen hatte, um ihm einen kindischen Streich zu
spielen!
Erst dann gestattete sich Andrej, zu begreifen, was er sah –
oder genauer gesagt: nicht sah. Abu Dun war verschwunden,
einfach verschluckt von einer tückischen Lücke im Eis, die sich
ohne Vorwarnung unter ihm aufgetan hatte.
Wenn es denn eine Eisspalte war …
Andrej fühlte Panik in sich aufsteigen. Und einen noch vagen,
ungläubigen Schmerz über den Verlust seines Freundes. Das
eine kämpfte er nieder, das andere gestattete er sich – noch –
nicht. Hastig ließ er sich auf Hände und Knie sinken, kroch
behutsam bis an den Rand des Lochs und erwartete, dass das Eis
nun auch unter seinem Gewicht nachgeben würde. Doch nichts
geschah. Ganz im Gegenteil fühlte sich der Boden so massiv wie
Fels an.
Überhaupt war an diesem Loch etwas nicht so, wie es sein
sollte.
Andrej hatte von solcherlei Dingen gehört, auch wenn er es
noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte: Tückische
Fallgruben aus Eis, die sich nur zu oft unter einer Decke aus
dünnem Schnee verbargen und darauf warteten, dass ein
unvorsichtiger Wanderer seinen Fuß darauf setzte, um ihn zu
verschlingen. Aber das hier war keine Eisspalte. Andrej
bezweifelte, dass es überhaupt durch die Hand der Natur
erschaffen worden war. Das Loch hatte einen guten Meter
Durchmesser und war so perfekt rund, als hätte ein begnadeter
Handwerker all sein Geschick aufgewandt, um an ihm sein
Meisterstück zu vollbringen. Und noch etwas wurde ihm klar:
Abu Dun war ohne jeden Laut verschwunden. Er hatte keinen
Schrei ausgestoßen, kein überraschtes Keuchen, ja, Andrej war
plötzlich sicher, nicht einmal
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