Blutkrieg
Dunkelheit einsetzte, beschleunigten Ansens Männer den Takt
der Ruderschläge, dem sich Andrej und Abu Dun anpassen
mussten, ob es ihnen gefiel oder nicht. Die plötzliche Eile
missfiel Andrej, aber er hatte dennoch Verständnis. Sie waren
gewiss erfahrene Seeleute, und er vermutete, dass sie sich auch
in dieser Gegend auskannten, doch selbst ein erfahrener Kapitän
scheute bei Dunkelheit und auffrischendem Wind ein von Riffen
verseuchtes Gewässer.
Andrej war klar, dass sie dieses Rennen nicht gewinnen
konnten. Als das letzte Grau der Dämmerung erlosch und es
endgültig dunkel wurde, waren sie der Küste zwar nahe genug,
dass sie nun als mächtiger schwarzer Schatten vor ihnen in den
Himmel wuchs, doch hatten sie die Riffe noch nicht
überwunden, sondern würden mindestens noch eine Stunde
brauchen.
Abu Duns Gedanken mussten sich wohl auf ganz ähnlichen
Pfaden bewegen wie die seinen, denn sein Gesichtsausdruck
wurde immer besorgter, und er ruderte nun ganz von sich aus
schneller, als es die übrigen Männer taten. Andrej verstand
immer weniger, warum Ansen die sinnlose Rast eingelegt und
damit die kostbare Stunde verschenkt hatte, die sie gebraucht
hätten, um die gefährlichen Untiefen bei Tageslicht zu
durchqueren. Aber nun war es zu spät.
Seine Befürchtungen erwiesen sich jedoch als unbegründet.
Nachdem es dunkel geworden war, zog sich der Himmel mit
unheimlicher Schnelligkeit noch weiter zu, und es wurde noch
einmal dunkler. Über ihnen war jetzt nicht ein einziger Stern zu
sehen, kein Mond – gar nichts.
Die Fenrir jagte durch nahezu vollkommene Dunkelheit der
Küste entgegen, und Andrej wartete insgeheim darauf, den
schrecklichen Laut zu hören, mit dem Holz auf Felsen prallte
und zerbarst, und er wäre nicht überrascht gewesen, wenn ihm
jeden Augenblick ein heftiger Aufprall das Ruder aus der Hand
gerissen hätte. Doch nichts dergleichen geschah. Die schaumige
Linie, die die Riffe markierte, kam nun immer rascher näher –
und dann waren sie darüber hinweg, so lautlos und leicht wie ein
Blatt, dass von einer lauen Brise davongetragen wird.
Andrej sah kurz über die Schulter zurück zu Ansen, der
aufrecht und mit lässig vor der Brust verschränkten Armen im
Heck der Fenrir stand und das tat, was er während der
zurückliegenden drei Tage schon getan hatte – er sah seinen
Männern, Abu Dun und ihm beim Arbeiten zu und nahm dabei
in regelmäßigen Abständen mit anerkennender Miene einen
Schluck aus seinem Bierkrug. Man konnte eine Menge gegen
Ansen sagen, aber er war offensichtlich ein erfahrener Kapitän,
der wusste, was er tat.
Nun, als sie die gefährlichen Riffe hinter sich hatten, erhöhten
die Männer den Takt ihrer Schläge nochmals, und das
Drachenboot schoss der Küste entgegen.
Zwei-, dreimal glaubte Andrej ein rotes Aufblitzen in der
Dunkelheit vor dem Bug der Fenrir zu sehen, war aber niemals
ganz sicher, bis die Wolkendecke für einen Moment aufriss und
er einen kurzen Blick auf die Küste erhaschte.
Rechter Hand der Fenrir glitt eine schmale Meereszunge
vorbei, die sich tief ins Land hineingefressen hatte und von steil
aufstrebenden, schrundigen Felswänden flankiert wurde. Das
Ende des schmalen Fjords musste von Menschen bewohnt sein,
denn ganz kurz erkannte er deutlich das rechteckige Muster
erleuchteter Fenster, dann waren sie an der Einmündung vorbei,
und nur einen Moment später schloss sich auch die
Wolkendecke wieder über ihnen, und die Küste versank erneut
in vollkommener Dunkelheit.
Andrej war enttäuscht. Er hatte erwartet, dass Ansen die erste
menschliche Ansiedlung ansteuern würde, auf die sie stießen,
doch offensichtlich war das Ziel des Nordmanns ein anderes.
Er musste wohl auch im Dunkeln sehen können, denn sie
fanden ihren Weg mit schlafwandlerischer Sicherheit. Vielleicht
aber waren er und seine Männer diese Strecke auch schon so oft
gefahren, dass sie keiner Orientierung mehr bedurften. Die Fenrir glitt noch eine geraume Weile parallel zum Ufer dahin,
dann, ohne dass Andrejs Augen in der völligen Schwärze vor
ihnen etwas hatten ausmachen können, gab er ein einzelnes
halblautes Kommando, und der Drachenkopf des Bootes
schwenkte herum und hielt nun direkt auf die Wand aus
massivem Fels zu.
Gerade als Andrej sich nicht mehr fragte, ob, sondern nur wann sie in voller Fahrt gegen die Felswand krachen würden,
wichen die Schatten vor ihnen zur Seite, und das Schiff lief in
einen weiteren
Weitere Kostenlose Bücher