Blutland - Von der Leidenschaft gerufen
Seite des Ovals hatte eine Schrift um den Rand, die sich nicht entziffern ließ, und in der Mitte eine Kompassrose. Ich hauchte das Metall an und rieb es an meinen Arbeitshosen, doch seine Geheimnisse blieben unter dem Dreck der Jahrhunderte sicher verborgen.
Gerade, als ich nach unten wollte, um das Medaillon zu bezahlen, tauchte eine kleine alte Frau neben mir auf und fragte: »Verzeihen Sie, Fräulein. Können Sie das lesen?«
»Ich will es gerne versuchen«, antwortete ich mit einem Lächeln.
Sie gab mir einen verkrusteten alten Salzstreuer, und ich las ihr den Preis vor, der mit Bleistift darauf geschrieben und schon ganz verschmiert war. Alte Leute wurden von mir magisch angezogen. Vielleicht, weil ich von Berufs wegen daran gewöhnt war, ihnen zu helfen. Vielleicht auch, weil ich nett aussah. Oder vielleicht, weil ich jedes Mal, wenn ich jemand Älteren sehe, an meine Großmutter denken und lächeln muss.
Mich um meine Großmutter zu kümmern, das ist eine meiner größten Freuden und zugleich eine meiner größten Sorgen. Ich kann bei ihr sein und ihr helfen, all die Aufgaben erledigen, die zur Pflege alter und kranker Menschen gehören, und die sie niemals einem fremden Menschen aufhalsen würde, weil ihr das viel zu peinlich wäre. Aber gleichzeitig muss ich zusehen, wie sie stirbt, und das bricht mir das Herz. Meine Mutter war lange fort und mein Dad lebte mit seiner neuen Frau am anderen Ende des Landes, und so ist sie die einzige Familie, die ich habe. Die Stunden, die ich jeden Tag mit ihr verbringe, sind mir kostbar. Ich kann kaum glauben, wie viel Zeit mit ihr ich verschenkt und stattdessen mit Jeff in Birmingham vergeudet habe.
Die alte Dame neben mir hatte dasselbe Feuer, das meine Großmutter zu so etwas Besonderem machte, eine Mischung aus guten Umgangsformen und Forschheit, die ich hoffentlich geerbt habe. Die Art, wie sie den unbotmäßigen Salzstreuer mit schmalen Augen musterte, erinnerte mich daran, wie ich als kleines Mädchen mit Nana auf Einkaufstour in Sachen Antiquitäten unterwegs gewesen war und ein Bonbon nach dem anderen gefuttert hatte, während sie mit den Verkäufern feilschte. Doch leider blieb mir nicht mehr viel Zeit, bis ich bei Mr Rathbin sein musste, und danach warteten noch vier weitere Patienten auf mich.
Gerade als ich den Mund öffnete, um mit einer Entschuldigung zu entschlüpfen, ging mein Piepser los. Es war die Nummer der Zentrale, gefolgt von der 911.
Mit einem »bitte entschuldigen Sie mich« stürmte ich an der überraschten alten Dame vorbei und die schmale Treppe hinunter.
»Muss eine Ärztin sein«, hörte ich sie noch zu jemandem sagen, bevor ich außer Hörweite war.
Könnte, wollte, sollte, dachte ich und erinnerte mich an die Nacht, als Jeff meine Bewerbungen für die medizinische Hochschule zerrissen und in den Müll geworfen hatte. Doch dann korrigierte ich mich:
Ich kann immer noch Ärztin werden, wenn ich will. Nichts hält mich davon ab, verdammt. Ich kann sein, was oder wer auch immer ich sein will. Niemand wird mir jemals wieder vorschreiben, was ich zu sein habe.
Wieder im Auto, griff ich in meine Tasche nach dem Handy, um im Büro anzurufen. Stattdessen fand ich das Medaillon. Ich starrte es an und rief mir in Erinnerung, dass ich kein Dieb bin, dass ich noch nie in meinem Leben etwas gestohlen habe … zumindest nicht mit Absicht.
Doch irgendetwas, für das ich keine Erklärung hatte, hielt mich davon ab, noch einmal ins Haus zu gehen und die Sache in Ordnung zu bringen. Die Frau, die den Hausflohmarkt durchführte, war beschäftigt und wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass das Medaillon existierte. Und die kürzlich verstorbene Mrs Stein würde es nicht vermissen. Es war kein Preis dran. Trotzdem tauchte in meinem Kopf ein wildes Bild auf, von Streifenwagen mit Blaulichtern, die meinen kleinen Wagen in der Einfahrt umzingelten, während mich Polizisten mit gezogenen Waffen aufforderten, die Hände hochzunehmen. So vieles in den letzten drei Jahren meines Lebens hatte die Angst diktiert.
Ich steckte den Kopf durch die Kette und ließ mein langes dunkles Haar darüberfallen. Dabei konnte ich es mir nicht verkneifen, mir selbst im Autospiegel listig zuzugrinsen. Das Medaillon war schwer und hing tiefer als die meisten meiner Halsketten, genau über dem Herzen. Ich steckte es unter mein Arbeitshemd und das T-Shirt darunter. Der schwere stumpfe Gegenstand fühlte sich gut auf der Haut an, und ich fragte mich, welche Art Metall sich
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