Blutleer
Sie hatte es für Thomas getan. Die ganze Fahrt über zurück nach Kaiserswerth war er sehr in sich gekehrt. Nicht sein übliches Schweigen, das war Barbara klar. Er hatte Gewissensbisse. Er hatte seine Geliebte verraten. Der Verrat an seiner Frau schien ihn nicht so sehr zu interessieren.
Angesichts der knappen Zeit hatte sie beschlossen, eine Matrix der Überfälle anzulegen und systematisch alles einzutragen, in der Hoffnung, ein Muster zu finden, etwas das vielleicht auf Hirschfeld deuten könnte – oder auf einen unbekannten Täter.
Eines wurde dabei schnell deutlich: Die Frequenz der Überfälle hatte sich seit 1999 gesteigert. Zunächst lagen noch mehr als zwölf Monate dazwischen. Seit Ende 2003 waren es nur noch drei Monate. Wie bei den Morden variierten auch hier die Orte, aber immer lagen sie in der Nähe der S 1. Einen Unterschied gab es jedoch: Der Mörder hatte nach einem bestimmten Typ Frau gesucht, blond, höchstens mittelgroß, nicht unter zwanzig und nicht über dreißig. Unter den Mordopfern kam höchstens die immer noch nicht identifizierte Prostituierte diesem Typ nahe. Sie war blond, und ihr Alter wurde auf Mitte zwanzig geschätzt.
Barbara ließ die letzte der Akten sinken. Von dort bis zu Oma Koslinski war es ein weiter Weg. Doch vieles sprach dafür, dass ein und derselbe Täter die Tat begangen hatte. Sie war sich sicher: Es musste ein weiteres Opfer geben. Eines, das entweder noch lebte und keine Anzeige erstattet hatte oder – das war wahrscheinlicher – eines, dass er ermordet hatte und das noch nicht gefunden war. Der Auslöser. Die Tat, die ihn auf den Geschmack gebracht hatte, dass Töten erregender war als nur Würgen.
Vermisstenfälle und unaufgeklärte Morde in der Zeit von November 2003 bis März 2004
notierte sie sich unter der Matrix und unterstrich es dick.
In diesem Moment bemerkte sie Thomas in der Arbeitszimmertür. Sie lächelte ihn an. »Es tut mir wirklich sehr Leid, dass ich nicht bei der Therapie war. Ich möchte nicht, dass du denkst, es wäre mir nicht wichtig.«
»Das weiß ich. Ich habe gesehen, dass du während der Sitzung versucht hast, mich anzurufen. Es kommt ja nicht alle Tage vor, dass ein Gefangener erschossen wird. Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist.« Er sah ihr in die Augen. »Ich bin dir nicht böse, Barbara. Beim nächsten Mal sitzen wir gemeinsam da.«
»War es denn gut?«
Er nickte. »Die Therapeutin ist sehr einfühlsam, sie kommt auf den Punkt. Denke ich wenigstens. Du wirst ja sehen, ob du mit ihr zurechtkommst.«
Die Uhr zeigte bereits Viertel nach sieben. »Die nächsten Tage werden sehr turbulent, Thomas. Ich glaube nicht, dass ich viel zu Hause sein werde.«
»Ich habe einen neuen Termin für nächsten Donnerstag gemacht. Soll ich ihn noch mal verschieben?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich werde da sein.« Sie nahm den letzten Bissen. »Ich muss gleich noch mal nach Duisburg.«
»Gut.« Er sah sie an. »Kommst du heute Abend … nach Hause?«
»Ich …«, sie zögerte. »Ich denke schon.«
»Schön.« Er drehte sich um und ging. Sie hörte ihn die Treppe nach oben steigen. Ordentlich wie er war, würde er jetzt sicher das Gästezimmer in Ordnung bringen.
Was war da eben passiert? Oberflächlich war es der alte Thomas gewesen, mit dem unendlichen Verständnis für sie, für ihren Job. Aber es hatte sich nicht so angefühlt. Es war, als hätte er nur die alten Gesten wiederholt. Sie vermisste seine Wärme.
Um zwanzig nach acht hastete Barbara ins Polizeipräsidium, aber die Besprechung hatte gerade erst angefangen. Heyer referierte gerade erste Erkenntnisse zum Mord an Hirschfeld. Man hatte das Präzisionsgewehr, ein Artic Warfare mit Zielfernrohr, auf dem Dach der Sparkasse gefunden, der Schütze war jedoch unerkannt entkommen. Seine Skimaske und einen dunklen Overall hatte man im Treppenhaus gefunden, sie wurden gerade untersucht. »Die Vorgehensweise war absolut professionell. Der erste Schuss wurde mit einem Hartkerngeschoss abgegeben, um die Scheibe samt Gitter zu durchschlagen, die folgenden vier Geschosse waren Vollmantelweichkerngeschosse, von denen ihm eines den Kopf zerfetzt hat. Wir vermuten, dass dieser Profikiller nicht aktenkundig ist – wir werden also nichts finden, womit wir mögliche DNA-Spuren an der Kleidung vergleichen können.« Auch die Fahndung nach dem Helfershelfer lief auf Hochtouren, hatte bisher aber noch nichts gebracht.
»Kommen wir jetzt zu einem sehr unangenehmen Kapitel«,
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