Blutlust
Düstere, das er ausstrahlte und das mich vom ersten Moment an so angezogen hatte, war nicht länger edel und kultiviert. Es war schmutzig, verkommen und degeneriert.
Er fasste nach meinem Handgelenk – ich zuckte zurück.
»Fass mich nicht an!«
Sein Gesicht nahm einen irritierten Ausdruck an.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«
»Mein voller Ernst.«
Erst jetzt nahm er seine Hand wieder zurück.
»Okay.« In seiner Stimme lag plötzlich eine Spur Resignation. »Hör zu, Sinna, ich habe keine Ahnung, was hier gerade vorgeht, aber wenn es wegen der Polizei ist …«
»Wie gesagt, ich habe jetzt keine Zeit«, unterbrach ich ihn. »Muss zur Vorlesung.«
»Sehen wir uns heute Abend?«, fragte er, und ich war überrascht, wie unsicher er plötzlich war.
»Ich muss jetzt los«, wich ich aus und setzte mich wieder in Bewegung.
»Tu das nicht, Sinna.« Es klang wie ein Flehen. »Lass mich hier nicht einfach so stehen.«
Ich ging weiter.
»Bitte. Sinna. Was immer passiert sein mag. Wir finden eine Lösung.«
Dass es für all das Schreckliche der letzten Stunden auch nur ansatzweise eine Lösung geben würde, bezweifelte ich. Und es brach mir das Herz. Dennoch, und auch gerade deshalb, blieb ich nicht stehen; schaute ich nicht zurück.
Ich liebe dich! , flüsterte er mir hinterher, aber es kam mir so vor, als hätte ich das nur in meinen Gedanken gehört. Verstört eilte ich weiter.
Als ich beim ›Kitty‹ ankam, wurde es bereits Nacht. Die Leuchtreklame war noch aus. Das dunkle Gebäude wirkte verlassen und unheimlich wie das Fabrikgelände dahinter.
Nach der Entdeckung von Max’ Folterkammer hielt ich den SM-Club für den falschen Treffpunkt. Aber Carla wollte mich hier treffen, und ich hoffte, dass sie ein wenig Licht in all das Dunkel bringen konnte; dass sie mir sagen konnte, was hier vor sich ging; dass sie vielleicht meine schlimmste Befürchtung zunichtemachen konnte – die, dass Max ein Mörder war, ein psychopathischer Killer, eine blutgierige Bestie.
Mich in jemanden verliebt zu haben, der sich dann als sadistischer Irrer entpuppt hatte, war schon schlimm genug; doch damit würde ich fertig werden können – selbst wenn ich fast eine ganze Nacht lang Sex hatte direkt neben einer Folterkammer, die besser bestückt war als die Befragungskerker der Hexenverfolgung in Europa im 15. und 16. Jahrhundert. Aber mein Herz verloren zu haben und wichtig, ja gar einzigartig sein zu wollen für jemanden, der nicht nur dazu in der Lage war, Menschen zu ermorden, sondern sie wie Vieh abzuschlachten, ohne dass ich davon auch nur das Geringste gespürt hatte, das würde mich vor allem an mir selbst zweifeln lassen. An mir selbst und an meiner Fähigkeit, Menschen zu beurteilen. Will sagen, würde es sich herausstellen, dass Max tatsächlich ein brutaler Killer war, würde ich nie wieder einem Mann vertrauen, weil ich mir selbst und meinem Urteilsvermögen nicht mehr vertrauen könnte.
Für alle Zukunft würde ich daran zweifeln, dass der Mensch gegenüber auch der war, den ich in ihm sah … nie wirklich wissen, ob das, was ich sah, vielleicht nur das war, was ich sehen wollte.
Ich hatte angefangen zu weinen auf dem Weg hierher und hielt an, um mir die Tränen von den Wangen zu wischen.
Diesmal hatte ich das verlassene Fabrikgelände von der richtigen Seite aus betreten. Kein Schleichen mehr durch die engen Gassen zwischen den lange stillgelegten Backsteinruinen. Trotzdem fühlte ich mich beobachtet.
Noch nie hatte ich mich so oft beobachtet gefühlt wie in den vergangenen Tagen. Und ich hatte mich nicht einmal geirrt. Während die natürlichen Instinkte der meisten Menschen in einer Stadt abstumpfen, schienen meine immer schärfer zu werden. Ich ging langsam weiter.
Und tatsächlich – ich war noch etwa fünfzehn Meter vom ›Kitty‹ entfernt, da trat Sandra aus dem Schatten. Die unheimliche Blondine trug das gleiche zerschlissene Spitzenkleid wie die anderen Male, die ich ihr begegnet war.
»Ich hatte dich gewarnt«, predigte sie mit weit aufgerissenen Augen. »O ja, das hatte ich.«
»Halt die Klappe!«, blaffte ich ihr entgegen, ohne anzuhalten.
»Noch ist es nicht zu spät«, flötete sie. »Aber wenn du jetzt dort hinuntergehst, wird es das sein.«
»Was willst du von mir?«
»Ich?«, fragte sie. »Ich will nichts. Aber sie, sie wollen dein Blut, Sinna. Dein einzigartiges Blut.« Sie schnupperte in meine Richtung, und ihr Gesicht nahm einen noch verklärteren Ausdruck an.
Ich stutzte.
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