Blutlust
den Augen.
»Was ist dann passiert?«, fragte ich sanft.
»Da kam dieser Mann über das Eis. Ein Native aus dem Stamm der Santee. Er grüßte uns freundlich und stellte sich vor als Chetá h Wakhúwa Máni , ›der Falke, der das Große Biest jagt‹. Er fragte, ob er sich kurz an dem Feuer aufwärmen könnte. Natürlich hat mein Vater ihn eingeladen; auch zum Essen. Aber Chetá h sagte, er würde später essen.
»Das war natürlich furchtbar romantisch. Eine Schneenacht auf einer Landzunge zwischen den beiden zugefrorenen Seen und am Lagerfeuer ein echter Sioux, der seine Chanunpa anzündete und uns Geschichten seines Volkes erzählte, aus der Zeit vor der Ankunft des Weißen Mannes.
»Ich weiß noch, dass ich dachte, Chetá h erzählt diese Geschichten, als hätte er sie selbst erlebt; als wäre er selbst dabei gewesen. Erst viel später habe ich begriffen, dass es wahrscheinlich tatsächlich so war. Aber an jenem Abend konnte ich das natürlich noch nicht wissen.
»So verbrachten wir bestimmt zwei oder drei Stunden. Inzwischen standen Mond und Sterne hoch am Himmel. Da legte Chetá h seine Pfeife zur Seite und dankte uns für die Gastfreundschaft. Dann wurde er fast ehrfürchtig und bat uns um Verzeihung für das, was er jetzt tun müsse.«
Jane stieß ein zynisches Lachen aus. »Der edle Wilde. Kreis des Lebens und der ganze Unsinn. Von wegen!
»Ich sah gerade noch, wie seine Reißzähne wuchsen … und dann hat er sich auf meinen Vater gestürzt und ihm mit einem einzigen Hieb den Kopf abgeschlagen, ehe der überhaupt reagieren konnte. Mit meiner Mutter und meiner Schwester hat er sich mehr Zeit gelassen. Sehr viel mehr. Meiner Mutter nahm er nur das Blut und das Leben …«
Sie schluchzte.
»… aber meine Schwester. Ich höre sie noch heute, wie sie ihn nach Stunden anflehte, sie endlich zu töten und ein Ende zu machen.«
»Und du?«, fragte ich.
»Ich saß einfach nur da«, brachte sie angestrengt hervor, und ich konnte sehen, dass sie sich noch heute dafür schämte. »Ich versuchte, mich zu bewegen; meiner Mutter und meiner Schwester zu helfen. Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist. Aber ich konnte es nicht. Ein einziges Mal hatte er mich angesehen, nachdem er meinen Vater getötet hatte, und seine Stimme dröhnte in meinem Kopf, ohne dass er überhaupt den Mund aufmachte. Sie sagte ›Du bleibst auf deinem Platz, bewegst dich nicht und gibst keinen Laut von dir!‹. Und so war es: Ich blieb sitzen und bewegte mich kein bisschen. Die ganze Zeit über.
Als er dann mit meiner Schwester fertig war, kam er zu mir. Ich saß in meiner eigenen Pisse und wusste, jetzt bin auch ich dran. Doch er verneigte sich nur vor mir und dankte mir für das Geschenk meiner Familie. Dann machte er eine knappe Geste, und ich konnte mich wieder bewegen.
Ich stürzte mich auf ihn wie ein wildes Tier. Doch er lachte nur. Er nahm mich bei den Schultern und hob mich in die Höhe. Dabei sah er mir tief in die Augen und sagte: ›Mein Hunger ist gestillt, und du bist zu jung, kleine Menschenfrau. Du darfst leben und wirst die Saat für künftige Nahrung sein.‹ Dann schlug er mich bewusstlos.
Als ich wieder erwachte, war ich halb erfroren, und der Tag war angebrochen. Meine Eltern und meine Schwester lagen tot neben mir. Zwei Tage und zwei Nächte bin ich gewandert, bis ich zur nächsten Siedlung kam.
Ich kam bei meiner Tante unter. Die steckte mich in die geschlossene Anstalt, in der ich die nächsten drei Jahre damit verbrachte zu akzeptieren, was mir die Ärzte sagten nämlich, dass meine Familie einem hungrigen Bären zum Opfer gefallen war. Hätte ich nicht irgendwann einmal aufgehört, auf der Wahrheit zu bestehen, säße ich heute noch in einer Gummizelle.
Aber als ich dann wieder draußen war, habe ich selbst recherchiert und bin im Internet auf die ›Beschützer‹ gestoßen. Deshalb bin ich zum Studieren hierher nach New York gekommen, um mich ihnen anzuschließen.
Und irgendwann finde ich Chetá h Wakhúwa Máni , ›den Falken, der das Große Biest jagt‹ … und dann wird er bereuen, dass er mich am Leben gelassen hat.«
Janes Geschichte war so packend und bewegend, wie sie phantastisch war. Ein Teil von mir wollte sie glauben, ein anderer aber weigerte sich nach wie vor. Jetzt war ich mir sicher, dass ich wollte, dass die Blutuntersuchung eindeutig bewies, dass Max nichts anderes als ein Mensch war.
Sie schaute mich an und sah, was in mir vorging. »Du glaubst mir kein Wort«, sagte sie
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