Blutmond - Wilsberg trifft Pia Petry - Kriminalroman
erzählen können. Dank dieses Anrufs fing mein Tag viel zu früh an und ich bin gelandet, wo ich normalerweise nie lande – im morgendlichen Berufsverkehr.
Langsam setzt sich die Autokolonne vor mir wieder in Bewegung. Fünf Minuten später finde ich eine Möglichkeit, zu wenden und mich in den Gegenverkehr einzureihen. Laut Display sind es nur noch zwei Kilometer bis zum Krankenhaus. Das ist der Vorteil an Münster. Da sind die Wege kurz. Viel kürzer als in Hamburg.
Meine ohnehin schlechte Laune erreicht ihren Tiefpunkt, als ich im Krankenhaus vor dem Lift stehe. An der Tür klebt ein Zettel. Außer Betrieb steht darauf und ich darf mich zu Fuß auf den Weg in den dritten Stock machen. Dort ist die Privatstation und dort ist auch Renates Zimmer. So wie ich sie kenne, residiert sie in einem Raum, dessen Größe und Einrichtung dem Standard eines Fünf-Sterne-Hotels entsprechen, wird von Privatärzten und Privatschwestern umschwirrt und sieht aus wie frisch aus Hollywood eingeflogen. Ganz zu schweigen von den Blumensträußen, mit denen der liebende Gatte das Zimmer wahrscheinlich geflutet hat.
Etwas außer Atem komme ich im dritten Stock an. Das Zimmer 304 befindet sich auf der rechten Seite am Ende des Gangs. Auf dem kleinen Plastikschild neben der Tür steht nur ein Name: Renate Averbeck. Ich klopfe und öffne die Tür.
Auf den Anblick bin ich nicht vorbereitet. Die Tür fliegt mir aus der Hand und kracht donnernd gegen die Wand. Ich stehe da wie in Beton gegossen. Starre den Arzt an, der mich unwillig mustert, starre die Frau an, die mit einem weißen Slip bekleidet auf dem Bett sitzt und nur noch entfernt Ähnlichkeit mit meiner Freundin Renate hat. Ihr Blick ist kalt und abweisend und geht irgendwie durch mich hindurch. Ihr Haar hängt ihr stumpf und strähnig ins Gesicht. Ihre Haut ist fahl, unter ihren Augen liegen dunkle Schatten, um den Mund haben sich harte Falten eingegraben. Doch das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste sind die Verletzungen. Die vielen langen, dunkelroten Schnitte, die kreuz und quer über ihren Oberkörper verlaufen.
»Machen Sie, dass Sie rauskommen!«, fährt mich der Arzt an. »Sie sehen doch, dass Sie stören.«
Aber ich bin unfähig, mich zu bewegen, und froh, heute Morgen nur eine Grapefruit gefrühstückt zu haben. Mein Blutdruck durchläuft eine rasante Talfahrt, und selbst wenn ich wollte, wüsste ich nicht, wie ich jetzt einen Fuß vor den anderen setzen sollte. Der Arzt kommt auf mich zu, packt mich an den Schultern und schiebt mich nach draußen. Ehe ich den Mund aufmachen kann, hat er mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.
Ich atme tief durch den Bauch und versuche, die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken. Langsam, mit vielen kleinen Schritten, bewege ich mich auf eine Holzbank an der gegenüberliegenden Gangseite zu und setze mich. Ich stehe unter Schock. So sieht also Renates Unfall, so sieht das Ausleben ihrer sexuellen Fantasien aus. Was man doch nicht alles für einen Orgasmus tut, denke ich und schäme mich meines Zynismus. Aber vielleicht brauche ich den, um mir das Bild vom Leib zu halten, das ich gerade gesehen habe. Und das so wenig zu der Frau passt, die ich zu kennen glaubte.
Renate Averbeck war der unumstrittene Star und Mittelpunkt der hipsten Clique auf dem Internat, in dem ich meine Jugend verbracht habe. Ihr Aussehen, ihr Stil, ihr Auftreten und nicht zuletzt der Reichtum ihrer Eltern machten sie unangreifbar. Alle Jungen waren in sie verknallt und die Mädchen hassten sie. Da der Versuch, sie vom Sockel zu stoßen, unweigerlich scheitern musste, wechselte ich früh die Strategie und wurde ihre Freundin. Auch wenn ich mir neben ihr immer vorgekommen bin wie ein Pinscher neben einem preisgekrönten Dobermann.
Doch was aus reiner Spekulation begonnen hatte, entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einer echten Freundschaft. Eine Freundschaft, an der ich auch noch festhielt, als ich von Renates dunkler Seite erfuhr. Als ich begriff, warum sie an manchen Tagen die Sonnenbrille nicht abnahm, den Schwimmunterricht schwänzte oder tagelang überhaupt nicht aus dem Zimmer ging. Ich mochte sie und profitierte von ihr. Grund genug, alles auszublenden, was unsere Beziehung hätte stören können. Auch diese kleinen Ausflüge in die SM-Welt, von denen ich damals glaubte, sie seien harmlos und hätten etwas mit Neugier und verrückt spielenden Hormonen zu tun. Doch da irrte ich mich. Sadomasochismus wurde im Laufe der Zeit ein fester Bestandteil
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