Blutmord (Ein Paula Franz und Max Dörner Krimi)
War er schon einmal hier gewesen? Er schüttelte den Kopf, Bäume zogen an ihm vorüber, er schloss für einen kurzen Moment die Augen und fiel augenblicklich in einen unruhigen Schlaf.
Wie erstarrt saß sie auf der Holzbank. Sie konnte ihren Blick nicht von der Tür vor sich abwenden. Sie hörte ein leises Wimmern, sie konnte es eher erahnen als richtig hören. Paula war wach. Neue Wut stieg in ihr auf. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte auf sie eingeschlagen, immer und immer wieder. Sie hatte ihr alles genommen, das Letzte, was ihr überhaupt noch geblieben war. Sie dachte an das vergangene Jahr. Das schlimmste überhaupt nach Dennis Verrat. Erst Lara und Tom und nun hatte sie auch noch Jan verloren. Auch er hatte sie verraten. Aber er war gewillt, es wieder gut zu machen. Doch nun war alles aus. Sie atmete langsam ein, versuchte, sich selbst ein wenig zu beruhigen. Sie musste einen klaren Kopf bewahren. Wer wusste, dass sie zusammen hier waren? Niemand, davon war sie überzeugt. Paula wollte Abstand gewinnen, ihre Ruhe haben, eine Entscheidung treffen. Niemand würde hier nach ihr suchen. Es musste wie ein Unfall aussehen. Verunglückt im Wald? Ihr Tod würde qualvoll werden, dessen war sie sicher. Die Sauna, eingestellt auf der höchsten Temperatur - ohne Luft und Wasser. Marie malte sich Paulas Tod aus und genoss den Gedanken. Sie hatte Paula vertraut. Dieser Schlampe. Sie hatte sich über die neue Freundschaft gefreut, sie wollte Paula wieder näher kommen, ihre beste Freundin werden, sich mit ihr austauschen, ihre Sorgen mitteilen und eventuell auch, wenn sie einander komplett vertrauten, die Wahrheit sagen. Aber stattdessen hatte Paula alles kaputt gemacht. Mit ihrer lächerlichen Ahnung. Mit ihrem Verdacht gegen Jan. Marie lachte unwillkürlich laut auf. Jan. Augenblicklich fasste ihre linke Hand in ihre Hosentasche und umschloss den kleinen, flauschigen Gegenstand, den sie immer bei sich trug. Sie drückte ihn so fest sie konnte. Jan war der Einzige, der sie bedingungslos geliebt hatte. Doch auch er hatte sich in einem schwachen Moment gegen sie gestellt. Trotzdem hatte er alles versucht, den Fehler wieder gut zu machen. Vielleicht hätte sie ihm eines Tages verzeihen können. Sie wusste es nicht. Doch das war jetzt nicht mehr wichtig. Marie war sicher, dass Paulas Kollege inzwischen bei Jan gewesen war. Jan war nicht so stark wie sie. Er würde keinem Verhör standhalten. Nach kurzer Zeit würde er einbrechen und alles gestehen. Sie war sich sicher, dass Jan sie nicht erwähnen würde. Er würde den Mord gestehen und verurteilt werden. Und sie würde Jan vergessen müssen. Sie würde wieder alleine zurückbleiben. Sie schloss für einen Moment die Augen. Ein Gefühl der Trauer und Einsamkeit stieg in ihr hoch. Allein, wie immer. Immer nur die zweite Geige, die zweite Wahl und immer wieder wurde sie verlassen. Ihr Bruder war wichtiger als sie gewesen, natürlich, er war klein und süß und lachte die ganz Zeit. Marie atmete stoßweise aus bei dem Gedanken an ihren kleinen Bruder. Sie sah ihn vor Augen, wie er strampelnd in seinem kleinen Bettchen lag, wie er sie ansah, voller Freude und bedingungsloser Liebe für seine große Schwester. Trotzdem hasste sie ihn. Seitdem er auf der Welt war, drehte sich alles nur noch um ihn. Wie sehr hatte sie den Moment genossen, als sie auf ihn hinabgestarrt und das Kissen auf sein Gesicht gedrückt hatte. Kurz hatte er noch gestrampelt. Dann war alles vorbei. Ganz kurz konnte sie dieses wunderbar befreiende Gefühl aus ihrer Kindheit heraufbeschwören. Sie fühlte sich plötzlich wieder leicht und unbeschwert. Von da an waren Mama und Papa wieder nur für sie dagewesen.
Marie umfasste ganz in Gedanken den Gegenstand in ihrer Hand noch fester. Dann zog sie ihn aus der Tasche und betrachtete ihn ausgiebig. Sie fuhr mit ihrem Finger die kleinen blau-weißen Streifen entlang. Wie klein so ein Füßchen ist, dachte sie. Sie erinnerte sich an Julia, auch sie hatte Marie verraten. Sie hatte sie getriezt, ihr immer und immer wieder vor Augen gehalten, dass Marie nichts war und sie alles. Julia konnte sich alles leisten, wurde zu jedem Geburtstag eingeladen und Marie stand immer in ihrem Schatten. Ein Lächeln umspielte nun Maries Mund. Manchmal nachts wachte sie auf und konnte noch genau dieses leise Klatschen hören - in dem Moment, als ihr kleiner Körper auf den Asphalt trifft. Knochen brechen, Haut platzt - es ist ein ganz leises Geräusch zu hören, wie ein zu
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