Blutmusik
meinen Unterlagen hausieren
und wurde von Genetron eingestellt.«
»So einfach war das?«
»Nein.« Vergil stocherte mit der Gabel im
Hüttenkäse herum. Dann legte er die Gabel aus der Hand.
»Ich habe meine Unterlagen ein wenig geschönt. Zeugnisse,
Examen und dergleichen. Niemand ist bis heute darauf gekommen. Ich
wurde gleich als hoffnungsvoller Nachwuchsmann angesehen und konnte
mich frühzeitig durch Proteinanordnungen und die Vorstufen zur
Biochip-Forschung profilieren. Genetron hat finanzstarke
Hintermänner, und wir bekamen alles, was wir brauchten. Nach
vier Monaten arbeitete ich selbständig, teilte zwar ein Labor
mit einer Kollegin, durfte aber unabhängige Forschung betreiben.
Dabei gelang mir ein Durchbruch.« Er winkte nonchalant ab.
»Dann stieß ich auf neue Fragestellungen. Ich tat
weiterhin meine reguläre Arbeit. Aber nach Feierabend… Die
Geschäftsleitung kam mir auf die Schliche und feuerte mich. Es
gelang mir, einen Teil meines Experiments zu retten. Aber ich bin
dabei nicht eben vorsichtig und überlegt vorgegangen. Und nun
geht das Experiment außerhalb des Labors weiter.«
Edward hatte Vergil immer als ehrgeizig und mehr als ein wenig
verschroben angesehen. Während seiner Schuljahre und des
Studiums waren Vergils Beziehungen zu Autoritätsgestalten
niemals problemlos gewesen. Edward war schon damals zu der
Schlußfolgerung gelangt, daß die Wissenschaft für
Vergil wie eine unerreichbare Frau war, die ihm plötzlich die
Schenkel öffnete, bevor er für reife Liebe bereit war
– so daß er in ständiger Furcht lebte, die Chance zu
verpatzen, den Preis zu verlieren, seine Karriere zu ruinieren.
Offenbar war es nun soweit. »Außerhalb des Labors? Ich
verstehe nicht, wie du das meinst.«
»Ich möchte, daß du mich untersuchst. Was ich
brauche, ist eine gründliche Allgemeinuntersuchung. Vielleicht
eine Krebsdiagnostik. Dann werde ich mehr erklären.«
»Du willst eine Zehntausenddollar-Untersuchung?«
»Was du machen kannst. Ultraschall, Computertomographie,
Thermogramm, Radiochromatographie, alles.«
»Ich weiß nicht, ob ich zu all diesen Geräten
Zugang bekommen kann, Vergil. Die Einrichtungen für die
Ganzkörper-Computertomographie sind erst vor zwei Monaten
installiert worden. Du hättest dir weiß Gott keine
kostspieligere Diagnostik aussuchen können…«
»Dann Ultraschall und Radiochromatographie. Das ist alles,
was du brauchst.«
»Ich bin ein Geburtshelfer, Vergil, kein glänzender
Wunderdoktor aus einer Fernsehserie. Gynäkologe, Zielscheibe
aller Medizinerwitze. Wenn du dich in eine Frau verwandelst, kann ich
dir vielleicht helfen.«
Vergil beugte sich vor und steckte den Ellbogen beinahe in den
Kuchen, konnte aber im letzten Augenblick ausweichen. Der alte Vergil
hätte genau hineingetroffen. »Untersuche mich genau, und du
wirst…« Er verengte die Augen und schüttelte den Kopf.
»Sieh einfach zu, daß du mich untersuchen
kannst!«
»Also werde ich dich für Ultraschall und
Radiochromatographie anmelden. Wer bezahlt?«
»Die Krankenkasse. Bevor ich ging, habe ich bei Genetron die
Personalakten überarbeitet. Was unter hunderttausend Dollar
ausmacht, wird übernommen, und sie werden nie darauf kommen,
daß etwas nicht stimmt. Aber es muß absolut vertraulich
geschehen.«
Edward schüttelte den Kopf. »Du verlangst viel von mir,
Vergil.«
»Möchtest du Medizingeschichte machen, oder
nicht?«
»Soll das ein Scherz sein?«
Vergil schüttelte den Kopf. »Nicht auf deine Kosten,
alter Freund.«
Noch am selben Nachmittag traf Edward die nötigen
Vorbereitungen, füllte selbst die Vordrucke aus. Er kannte sich
im Papierkrieg des Krankenhauses aus und wußte, daß die
meisten Untersuchungen ohne offizielle Notiz stattfinden konnten,
solange alles ordnungsgemäß aufgeschrieben und berechnet
wurde. Seine Dienste berechnete er nicht. Schließlich hatte
Vergil seinen Urin blau gefärbt. Sie waren Freunde.
Edward machte Überstunden. Er erklärte Gail in groben
Umrissen, was er zu tun hatte; sie seufzte das Seufzen einer Arztfrau
und sagte ihm, sie würde ihm einen Imbiß auf den Tisch
stellen, wenn er spät heimkäme.
Um zehn Uhr abends kam Vergil ins Krankenhaus und traf Edward am
verabredeten Seiteneingang des Flügels, den die Schwestern den
Frankenstein-Flügel nannten. Edward saß auf einem
orangefarbenen Plastikstuhl und las in einer Zeitschrift, als Vergil
mit besorgter und ratloser Miene den kleinen Vorraum betrat. Die
Fluoreszenzlampen verfärbten
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