Blutmusik
Schrank sehen. Edward ging hinüber. An
einem Ende, dem Schrank gegenüber, war eine Duschkabine. Unter
ihrer Tür kam ein dünnes Rinnsal hervor. Er betätigte
den Lichtschalter, aber dieser ganze Teil der Wohnung war ohne Strom;
das einzige Licht kam vom Schlafzimmerfenster. In dem Schrank fand er
sowohl Chlorkalk zum Bleichen als auch einen großen
Zweiliterkanister Ammoniak.
Er trug beides durch den Korridor und schüttete den Inhalt in
die Wanne, ohne Vergils blicklose blasse Augen anzusehen. Dämpfe
zischten auf, und hustend schloß er die Tür hinter
sich.
Jemand rief leise Vergils Namen. Edward trug die leeren Kanister
in das Schlafzimmer, wo die Stimme lauter zu hören war. Er blieb
stehen und neigte lauschend den Kopf.
»He, Vergil, bist du’s?« fragte die Stimme. Sie kam
aus der Duschkabine. Edward tat einen Schritt vorwärts. Hielt
inne. Genug, dachte er. Die Realität war abschreckend genug, und
er wollte wirklich nicht mehr davon. Dennoch tat er einen weiteren
Schritt, dann noch einen und erreichte die Tür der
Duschkabine.
Die Stimme klang wie die einer Frau, rauh und fremd, aber nicht
wie die Stimme eines Menschen in Not.
Er faßte den Türgriff mit einer Hand und zog. Mit einem
hohlen Klicken schwang die Tür auf. Er spähte in die
Dunkelheit der Duschkabine, bis seine Augen sich angepaßt
hatten.
»Mein Gott, Vergil, du hast mich vernachlässigt. Wir
müssen endlich raus aus diesem Hotel. Es ist dunkel und klein,
und ich fühle mich nicht wohl.«
Er erkannte die Stimme vom Telefon, obwohl er sie nach der
äußeren Erscheinung nicht hätte wiedererkennen
können, selbst wenn er eine Fotografie gesehen hätte.
»Candice?« fragte er.
»Vergil? Laß uns gehen!«
Er floh.
15
Als Edward nach Hause kam, läutete das Telefon. Er meldete
sich nicht. Es konnte das Krankenhaus gewesen sein, oder Bernard
– oder die Polizei. Er malte sich aus, wie er alles der Polizei
würde erklären müssen. Genetron würde mauern;
Bernard würde unerreichbar sein.
Edward war erschöpft, all seine Muskeln waren angespannt und
verkrampft, und seine Gefühle… Wie fühlt man sich,
nachdem man – Völkermord begangen hat?
Das schien wirklich nicht realistisch. Er konnte nicht glauben,
daß er gerade eine Billion intelligenter Wesen ermordet hatte.
»Noozyten.« Eine Galaxie ausgelöscht. Das war
lachhaft. Aber er lachte nicht.
Noch immer hatte er das Bild vor Augen, das er in der Duschkabine
gesehen hatte.
An ihr war die Arbeit der Umwandlung sehr viel rascher vor sich
gegangen. Ihre Beine waren verschwunden, ihr Rumpf zu
impressionistischer Magerkeit reduziert. Sie hatte das Gesicht zu ihm
gehoben, bedeckt mit Schwielen, als ob es aus Taurollen gemacht
wäre.
Er hatte das Gebäude gerade zur rechten Zeit verlassen, um zu
sehen, wie ein weißer Kleinbus um die Ecke gekommen war und vor
dem Haus gehalten hatte, gefolgt von Bernards Limousine. Er hatte in
seinem Wagen gesessen und beobachtet, wie Männer in weißen
Schutzanzügen aus dem Kleinbus gestiegen waren, der keine
Aufschrift und keine Kennzeichen trug.
Dann hatte er den Motor gestartet, den Gang eingelegt und war
weggefahren. Einfach so. Zurück nach Irvine. Die ganze
schreckliche Geschichte zu ignorieren, so lange er konnte, sonst
würde er sehr bald so verrückt sein wie Candice.
Candice, die über dem offenen Abfluß in eine
Duschkabine umgewandelt wurde. Die kleinen Schwerenöter
hinauslassen, hatte Vergil gesagt. Ihnen zeigen, was es mit der Welt
auf sich hatte.
Es fiel ihm nicht allzu schwer, zu glauben, daß er gerade
ein menschliches Wesen getötet hatte, einen Freund. Der Rauch,
der geschmolzene Lampenschirm, das qualmende Kabel.
Vergil.
Er hatte die eingeschaltete Lampe zu Vergil in die Badewanne
geworfen.
War er gründlich genug gewesen? Hatte er alle, die in der
Wanne gewesen waren, abgetötet? Vielleicht würden Bernard
und seine Gruppe zu Ende bringen, was er begonnen hatte.
Er zweifelte jedoch daran. Wer konnte es alles erfassen? Er konnte
es ganz gewiß nicht; er hatte Schreckliches erfahren und
gesehen, und glaubte nicht, daß er sich zutrauen konnte,
vorauszusagen, was als nächstes geschehen würde. Verstand
er doch kaum, was jetzt geschah.
Die Träume. Städte, die über Gail herfielen, sie
vergewaltigten. Myriaden winziger, unsichtbarer Intelligenzen, die
sich alle überstäubten, unterwanderten, durchdrangen.
Welcher Schmerz… und doch auch, welch potentielle
Schönheit! Eine neue Art von Leben, Symbiose
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