Blutmusik
und
Verwandlung.
Nein, das war kein guter Gedanke. Veränderung – zuviel
Veränderung –, dort begannen seine Einwände gegen eine
neue Ordnung, eine neue Art, weil er recht gut wußte, daß
es nicht mehr einzudämmen war, daß es mehr von ihnen geben
mußte. Vergil hatte mehr gemacht, in seiner unbeholfenen,
kurzsichtigen Art hatte er das nächste Stadium eingeleitet.
Nein. Das Leben geht weiter. Kein Ende, keine Verwandlung, keine
erschreckenden Erlebnisse wie Candice in der Duschkabine oder Vergil
tot in der Badewanne; Leben ist das Recht des Individuums auf
Normalität und normales Altern, wer würde dieses Recht in
Frage stellen oder wegnehmen, welcher vernünftige Mensch
würde das akzeptieren, und wieso glaubte er akzeptieren zu
müssen, was – wie er meinte – geschehen
würde?
Er legte sich auf die Couch und beschirmte die Augen mit dem
Unterarm. In seinem ganzen Leben war er nicht so erschöpft
gewesen – bis zur Unfähigkeit zu rationalem Denken
körperlich und emotional entleert. Dennoch scheute er den
Schlaf, weil er spürte, daß die Alpträume sich
auftürmten wie Gewitterwolken und nur darauf warteten, ihn mit
Echos und Brechungen dessen, was er gesehen hatte,
durchzuschütteln.
Er nahm den Unterarm vom Gesicht und starrte zur Decke auf. Es war
vielleicht gerade noch möglich, daß aufgehalten werden
konnte, was in Gang gesetzt worden war. Vielleicht war er der
einzige, der als Auslöser der dazu erforderlichen Aktionen
wirken konnte. Er könnte das Amt für Seuchenbekämpfung
alarmieren (ja, aber waren das die Leute, mit denen er sprechen
wollte?), oder vielleicht das Verteidigungsministerium? Zuerst das
Gesundheitsamt, wo er Bekannte hatte? Oder vielleicht sogar die
Scripps-Klinik in La Jolla…
Wieder bedeckte er die Augen mit dem Unterarm. Es gab keine klare
Vorgangsweise.
Die Ereignisse überstiegen einfach sein Vermögen. Er
konnte sich vorstellen, daß es im Laufe der
Menschheitsgeschichte oft Ähnliches gegeben hatte: Flutwellen
von Ereignissen, die entscheidende Einzelpersonen zusammen mit allen
anderen überwältigten und fortrissen. Wer hatte in solchen
Lebenslagen nicht den Wunsch nach einem ruhigen Ort, vielleicht einem
kleinen mexikanischen Dorf, wo nie etwas passierte und wohin man sich
zurückziehen und schlafen konnte, bloß schlafen…
»Edward?« Gail beugte sich über ihn und
berührte seine Stirn mit kühlen Fingern. »Jedesmal,
wenn ich heimkomme, liegst du hier und schläfst wie ein Sack. Du
siehst nicht gut aus. Wie fühlst du dich?«
»Ganz gut.« Er setzte sich auf den Rand der Couch. Er
fühlte sich erhitzt, und Benommenheit bedrohte sein
Gleichgewicht. »Hast du etwas für das Abendessen
geplant?« Sein Mund arbeitete nicht richtig; die Worte klangen
undeutlich, nuschelnd. »Ich dachte, wir könnten
ausgehen.«
»Du hast Fieber«, sagte Gail. »Sehr hohes Fieber.
Warte hier, ich hole das Thermometer.«
»Nein«, rief er ihr schwächlich nach. Dann stand er
auf und tappte ins Badezimmer, um in den Spiegel zu schauen. Sie traf
ihn dort und steckte ihm das Thermometer unter die Zunge. Wie immer
dachte er daran, es wie Harpo Marx zu zerbeißen und wie eine
Zuckerstange zu essen. Sie blickte ihm über die Schulter in den
Spiegel.
»Was ist es?« fragte sie.
Unter seinem Kragen waren Streifen um den Hals. Weiße
Streifen, wie Straßen.
»Feuchte Hände«, murmelte er. »Vergil hatte
feuchte Hände.« Sie waren bereits seit Tagen in ihm.
»So offensichtlich.«
»Edward, bitte, was ist?«
»Ich muß einen Anruf machen«, sagte er. Gail
folgte ihm ins Schlafzimmer und blieb bei ihm stehen, als er sich auf
die Bettkante setzte und die Nummer von Genetron wählte.
»Dr. Michael Bernard, bitte«, sagte er. Die Empfangsdame
sagte ihm – viel zu schnell –, daß es bei Genetron
keine Person dieses Namens gäbe. »Es ist zu wichtig, um
damit Geheimniskrämerei zu treiben«, sagte er kalt.
»Sagen Sie Dr. Bernard, daß Edward Milligan am Apparat
ist, und es ist dringend!«
Die Empfangsdame ließ ihn warten. Vielleicht war Bernard
noch in Vergils Wohnung und versuchte das Rätsel zu lösen;
vielleicht würden sie einfach die Polizei verständigen und
ihn verhaften lassen. So oder so, es kam wirklich nicht mehr darauf
an.
»Bernard hier.« Die Stimme klang entschieden und
ziemlich so, dachte Edward, wie er selbst sich anhören
mußte.
»Es ist zu spät, Doktor. Wir haben Vergils Hand
geschüttelt. Verschwitzte Handflächen, erinnern Sie sich?
Und fragen Sie sich,
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