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Blutmusik

Blutmusik

Titel: Blutmusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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an.
Jerry beugte sich aus dem Fenster der Fahrerseite, um sie genauer ins
Auge zu fassen. »Jung ist sie nicht«, sagte er in
enttäuschtem Ton.
    Sie war Anfang oder Mitte fünfzig, mit offenem schwarzen
Haar, und sie trug ein pfirsichfarbenes Seidengewand, das bis zu den
Knöcheln reichte und hinter ihr flatterte, als sie
näherlief. Die Brüder sahen einander an und
schüttelten den Kopf, ungewiß, was sie denken oder tun
sollten.
    Sie kam zur Beifahrerseite, außer Atem und lachend.
»Gott sei gedankt!« sagte sie. »Oder der
glücklichen Fügung des Schicksals. Ich dachte schon, ich
sei die einzige Überlebende in der ganzen Stadt.«
    »Anscheinend nicht«, murmelte Jerry. John öffnete
die Tür, und sie kletterte herauf ins Fahrerhaus. Er rückte
zur Seite und machte ihr Platz, und sie setzte sich mit einem tiefen
Seufzer und lachte wieder. Sie wandte den Kopf und betrachtete die
beiden mit einem Ausdruck plötzlich erwachten Mißtrauens.
»Sie sind hoffentlich keine Straßenräuber,
oder?«
    »Glaube ich nicht«, sagte Jerry, den Blick nach vorn auf
die Straße gerichtet. »Von wo sind Sie?«
    »Aus der Stadt. Mein Haus ist weg, und die ganze
Nachbarschaft ist eingewickelt wie ein Weihnachtspaket. Ich dachte,
ich sei die einzige Überlebende auf der Welt.«
    »Dann haben Sie nicht Radio gehört«, sagte
John.
    »Nein. Ich mag die elektronischen Sachen nicht. Aber ich
weiß auch so, was vorgeht.«
    »Was Sie nicht sagen«, sagte Jerry und legte den Gang
ein.
    »In der Tat. Mein Sohn. Er ist für dies alles
verantwortlich. Ich hatte keine Ahnung, welche Form es annehmen
würde, aber es gibt keinen Zweifel. Und ich warnte ihn
noch!«
    Die Zwillinge tauschten wieder einen Blick. Die Frau warf das Haar
zurück und zog es im Nacken geschickt durch ein Gummiband.
    »Ja, ich weiß«, sagte sie und lachte leise.
»Verrückt wie eine Bettwanze, die Alte. Aber wenn Sie mir
schon nicht glauben, ich kann Ihnen sagen, wohin wir fahren
sollten.«
    »Wohin?« fragte Jerry.
    »Nach Süden«, sagte sie entschieden. »Dorthin,
wo mein Sohn arbeitete.« Sie strich das Gewand über ihren
Knien glatt. Ȇbrigens, mein Name ist Ulam, April
Ulam.«
    »John«, sagte John, streckte unbeholfen die Rechte aus
und ergriff ihre Hand. »Und das ist mein Bruder,
Jerry.«
    »Ah, ja«, sagte April. »Zwillinge. Leuchtet
ein.«
    Jerry fing an zu lachen. Tränen traten ihm in die Augen, und
er wischte sie mit dem schmutzigen Handrücken ab.
»Südwärts, meine Dame?« fragte er.
    »Selbstverständlich.«

 
29
     
    Elektronisches Tagebuch von Michael Bernard
     
15. Januar: Heute begannen sie, mit mir zu sprechen.
Stockend zuerst, dann, im weiteren Tagesverlauf, mit
größerer Zuversicht.
    Wie soll ich die Erfahrung ihrer »Stimmen«
beschreiben? Nachdem sie endlich die Blut-Gehirn-Barriere
überwunden und die (für sie) enormen Grenzgebiete meines
Gehirns erforscht haben, und nachdem sie in den Aktivitäten
dieser neuen Welt ein ordnendes Prinzip – nämlich mich
– erkannt und begriffen haben, daß die Information aus
ihrer fernen Vergangenheit vor Monaten zutreffend war, daß
eine makroskopische Welt tatsächlich existiert…
    Nachdem sie dies alles gelernt haben, müssen sie sich
nun mit der Vorstellung vertraut machen, was es ist, Mensch zu
sein. Denn erst in diesem Stadium können sie mit diesem Gott
in der Maschine kommunizieren. Indem sie während der letzten
Tage vielleicht Zehntausende von »Gelehrten« an diesem
Projekt arbeiten ließen, haben sie die Aufgabe
tatsächlich gelöst und plaudern jetzt mit mir nicht
anders als beispielsweise ein australischer Ureinwohner.
    Ich sitze in meinem Schreibtischsessel, und wenn die
verabredete Zeit kommt, sprechen wir. Ein Teil davon ist in
englisch (ich denke, daß die Unterhaltung
möglicherweise auf einer vorsprachlichen Ebene des Gehirns
stattfindet und von meinem eigenen Verstand nachträglich ins
Englische übertragen wird), teils visuell, teils in anderen
Sinneswahrnehmungen – überwiegend durch den Geschmack,
ein Sinnesorgan, das ihnen besonders zuzusagen scheint.
    Ich kann die Größe der Population in mir nicht
schätzen. Sie kommen in vielen Kategorien vor: die
ursprünglichen Noozyten und ihre Derivate, die unmittelbar
nach der Invasion umgewandelt wurden; die Kategorien mobiler
Zellen, von denen viele dem Körper offenbar neu sind, neu
entworfen und mit neuen Funktionen versehen; die stationären
Zellen, vielleicht keine Individuen im geistigen

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