Blutnacht
überlegte, mit wem er sprechen sollte, als ihn ein erneuter Schwindelanfall traf und ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach – zu stark, um ihn unter Kontrolle zu bringen, Scheiße, dieser würde ihn umhauen.
Er erblickte einen Sessel. Schaffte es gerade noch bis dorthin. Schloss die Augen …
Ein Nebelhorn brachte ihn schlagartig zurück ins Leben.
»Wer sind Sie und was tun Sie hier?«
Stahl öffnete die Augen, ließ sie zu der Uhr über den Monitoren wandern. Er war nur ein paar Minuten ohne Bewusstsein gewesen.
»Antworten Sie«, verlangte dieselbe Stimme. Blechern, weiblich – eine schmetternde Tuba.
Er drehte sich um, fasste die Quelle ins Auge.
Ältere Frau – Mitte bis Ende sechzig. Groß, breitschultrig, stämmig.
Ihr Kopf war eine fast vollkommene Kugel, gekrönt von einer bauschigen, eingesprayten Knolle champagnerfarbener Wellen. Dick aufgetragenes Make-up, viel zu viel Rouge und Lidschatten. Burgunderroter Lippenstift trug wenig dazu bei, ihre wulstigen Lippen zu verschönern. Sie hatte ein grasgrünes Strickkostüm mit großen Kristallknöpfen und weiß eingefassten Aufschlägen an, das teuer gewesen sein musste. Zu eng für ihre Linebacker-Figur, sie schien regelrecht herauszuplatzen. Schuhe und Handtasche aufs Kostüm abgestimmt. Krokodillederhandtasche mit einem massiven Rheinkieselverschluss. Der Klunker an ihrem wurstähnlichen Ringfinger war kein Rheinkiesel. Blendend weiß, ein Riesending. Diamantohrringe, ein Paar Steine in jedem. Eine große schwarze Perlenkette umgab einen Hals mit Truthahnfalten.
»Nun?«, schmetterte sie. Funkelte ihn wütend an, während sie beide Hände auf scheunenbreite Hüften pflanzte. Ein weiterer massiver Ring glitzerte an ihrer rechten Hand. Ein Smaragdsolitär, der noch größer als der Diamant war. An ihr war genug Schmuck, um Stahls Pension mehrfach zu finanzieren.
»Ich werde jetzt sofort den Sicherheitsdienst rufen.« Ihre Hängebacken zitterten, und ihr Busen sympathisierte sichtlich mit ihnen.
Stahl tat der Kopf weh; der Klang dieser erbarmungslosen Stimme war zerstoßenes Glas in einer offenen Wunde. Er fummelte in seiner Tasche, zeigte sein Abzeichen vor.
»Sie sind von der Polizei?«, sagte sie. »Was machen Sie dann schlafend in Donalds Zimmer?«
»Tut mir Leid, Ma’am. Mir ist nicht gut. Ich habe mich hingesetzt, um zu Atem zu kommen, und muss eine Sekunde lang weg gewesen –«
»Wenn Sie nicht gesund sind, dann sollten Sie ganz sicher nicht hier sein. Donald ist sehr krank. Sie haben ihn hoffentlich nicht angesteckt. Das ist ungeheuerlich!«
Stahl stand auf. Kein Schwindelgefühl mehr. Der Ärger darüber, dass er sich mit diesem Drachen abgeben musste, hatte seine Ängste bezwungen.
Interessant …
»In welcher Beziehung stehen Sie und Mr. Murphy?«, fragte er.
»Nein, nein, nein.« Ein Finger bewegte sich hin und her. Diamanten glitzerten. »Sie sagen mir, warum Sie hier sind.«
»Mr. Murphys Tochter wurde ermordet«, sagte Stahl.
»Erna?«
»Sie kannten sie?«
»Kannte sie? Ich bin ihre Tante. Donalds kleine Schwester. Was ist mit ihr passiert?« Ärgerlich, fordernd, keine Spur von Mitleid. Oder Schock.
»Sie sind nicht überrascht?«, fragte Stahl.
»Junger Mann, Ernadine war psychisch gestört, und zwar schon seit Jahren. Donald hatte keinen Kontakt mehr zu ihr und ich auch nicht. Niemand in der Familie.« Sie betrachtete den Mann auf dem Bett. »Wie Sie sehen können, hat es keinen Sinn, Donald zu behelligen.«
»Wie lange ist er schon in diesem Zustand?«
Ihr Gesichtsausdruck besagte: Was geht Sie das an? »Monate, junger Mann, Monate.«
»Liegt er im Koma?«
Die Frau lachte. »Sie müssen ein Detective sein.«
»Was fehlt ihm, Ms. …«
»Mrs. Trueblood. Alma F. Trueblood.«
Murphys kleine Schwester. Stahl konnte sich nicht vorstellen, dass diese Frau jemals klein gewesen war.
Er sagte: »Ma’am, gibt es irgendwas, was Sie mir über –«
»Nein«, blaffte Alma Trueblood.
»Ma’am, Sie haben die Frage nicht gehört.«
»Brauch ich nicht. Es gibt nichts, was ich Ihnen über Ernadine sagen könnte. Wie ich gerade sagte, sie war seit Jahren gestört. Ihr Tod war schon lange fällig, wenn Sie mich fragen. Sie lebte auf der Straße. Donald hatte sie seit mehreren Jahren nicht gesehen. Das können Sie mir glauben.«
»Seit wie vielen Jahren?«
»Viele. Sie haben sich aus den Augen verloren.«
»Sie sagen, ihr Tod sei schon lange fällig gewesen?«
»Das sage ich allerdings. Ernadine wollte sich
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