Blutnacht
Sie wissen schon was. Ich hab ihn richtig gut durchgewalkt, und er entspannte sich. Aber irgendwas an ihm – selbst als er schlief, war er verkrampft. Knirschte mit den Zähnen und hatte diesen wirklich … unangenehmen Ausdruck auf seinem Gesicht.«
Sie kniff die Augen zusammen, schob den Unterkiefer vor, verzog das Gesicht.
»Verkrampft«, sagte Stahl.
»Als ich ihn traf, war er gut gelaunt und locker. Wirklich lässig. Das hat mir an ihm gefallen. Ich hatte genug Stress in meinem Leben, wer will schon noch tiefer runtergezogen werden.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich dachte, er baut mich auf. Ich schätze, das war blöd.«
Stahls Oberschenkel war warm geworden, wo ihre Hand ruhte. Er tätschelte sacht ihre Finger. Nahm ihre Hand weg und stand auf.
»Wo wollen Sie hin?«, fragte sie.
Unruhe in ihrer Stimme. Stahl sagte: »Ich muss mich mal strecken.«
Er trat näher ans Bett, stand neben ihr.
»Als ich aufwachte«, sagte sie, »als Sie mich aufgeweckt haben, war ich völlig fertig, als mir klar wurde, dass er verschwunden war. Wie soll ich wieder zurück nach Hause kommen?«
»Ich nehme Sie mit«, erwiderte Stahl.
»Sie sind wirklich cool«, sagte sie. Streckte die Hand nach seinem Reißverschluss aus, zog ihn sehr langsam herunter.
»Nett«, sagte sie. »Ein netter Mann.«
Stahl ließ sie gewähren.
44
Ich legte die Fotokopien hin. »Es ist ziemlich offensichtlich.«
Es war 22 Uhr, und Milo war vorbeigekommen, um mir die Jahresberichte zu zeigen, die Elizabeth Martin Shulls Akte entnommen hatte. Als ich die Seiten überflog, sprangen mir aufgeblasene Absätze regelrecht entgegen. Sätze zusammengewürfelt wie Pendler in Tokio. Durcheinander, pompös, unelegant. Shull konnte einen Mord schlau und entschieden planen und ausführen, aber wenn er mit dem geschriebenen Wort konfrontiert wurde, verlor sein Verstand die Bodenhaftung.
Er hatte ein Seminar vorgeschlagen, das er entwickeln wollte. »Die Kartographie von Dissonanz und Aufruhr: Kunst als paläo-bioenergetisches Paradox.«
Ich griff in meinen Aktenkarton und fand, was ich suchte: die Kritik von Julie Kippers Ausstellung in SeldomScene, die »FS« verfasst hatte. Da waren die Worte: paradox, kartographieren und Dissonanz. Ich suchte weiter. Als FS sich Angelique Bernet aus »la compagnie« herausgepickt hatte, hatte er geschwärmt: »Das ist TANZ in seiner paläo-instinktuo-bioenergetischen Form, so stimmig, so wirklich, so schamlos erotisch.“
Ich zeigte es Milo. »Er recycelt. Begrenzte Kreativität. Das muss frustrierend sein.«
»Also ist er ein Schreiberling«, sagte er. »Warum konnte er dann nicht einfach für den Film schreiben, anstatt Leute umzubringen?« Murmelnd malte er rote Kreise um die sich entsprechenden Wendungen.
»Nachdem wir nun wissen, dass er es ist«, sagte ich, »gewinnt die Auswahl seiner Opfer eine neue Qualität für mich. Bis jetzt hatte ich rein psychologisch gedacht: Er schnappt sich Stars im Aufstieg, schluckt ihre Identität, bevor sie sich korrumpieren lassen.«
»Psychischer Kannibalismus«, sagte Milo. »Es fing gerade an mir zu gefallen. Und jetzt denkst du das nicht mehr?«
»Doch, schon. Aber ein anderer Faktor ist die Diskrepanz zwischen Shulls übersteigerter Selbsteinschätzung und seinen Errungenschaften. Der große Künstler, der in Musik und bildender Kunst versagt hat. Er hat bis jetzt keine Schriftsteller umgebracht, also hält er sich vermutlich nach wie vor für einen brauchbaren Autor.«
»Der Roman, von dem er spricht.«
»Vielleicht liegt ein Manuskript in einer Schublade«, sagte ich. »Das Entscheidende ist, dass Shull höchstwahrscheinlich von Bitterkeit und pathologischer Eifersucht geprägt ist, aber das ist dennoch nur ein Teil. Ich glaube, er denkt praktisch: Wenn man jemanden umbringt, der wirklich berühmt ist, löst man eine ungeheure Publicity und eine beharrliche Fahndung aus. Eine derart grandiose Sache durchzuziehen wäre eine Versuchung für Shull, aber er ist zu diesem Zeitpunkt schlau genug, sich von dem Risiko abschrecken zu lassen. Also senkt er seine Ansprüche, sucht sich Leute wie Baby Boy, Julie Kipper und Vassily Levitch als Opfer, die noch nicht richtig berühmt sind. Ihre Geschichten schaffen es nicht auf die Titelseite.«
»Willst du damit sagen, dass er sich am Ende prominente Opfer aussuchen wird?«
»Wenn er weiter Erfolg hat. Mord ist die einzige Sache, in der er je gut war.«
»Du hast Recht. Bei einem berühmten Opfer hätte ich schon längst
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