Blutnebel
fünfzehn Minuten, und ich muss die Chroniken auch noch in die Regale zurückstellen, ehe ich absperren kann.«
»Okay.« Er stieß sich von dem kleinen Tisch ab, an dem er gesessen hatte, erhob sich und lockerte die Schultern. »Ich glaube, ich habe fürs Erste genug gelesen.«
Die Frau blickte zwischen ihm und dem Stapel Chroniken auf dem Tisch hin und her. Schließlich gewann die Neugier die Oberhand. »Warum interessiert sich jemand wie du eigentlich für diese alten Geschichten?«
Er stutzte. »Jemand wie ich?«
Sie besaß den Anstand, rot zu werden. »Ich meine, nachdem du dich doch für Geister und so was interessierst, kann ich mir nicht vorstellen, was du finden willst, wenn du dich über unseren Stadtgründer informierst. Ich hoffe sehr, dass du nichts Unschmeichelhaftes über ihn schreibst. Hier in der Gegend gibt es immer noch Ashtons, und denen wäre es gar nicht recht, wenn ihre Vorfahren verleumdet würden.«
Sein Lächeln enthüllte nichts von den Gefühlen, die in ihm tosten. »Nachdem Sie ja schon immer eine Expertin für Verleumdung waren, glaube ich Ihnen das gern.« Er ging zur Tür und ließ sie sprachlos über seine Unverschämtheit mit offenem Mund stehen. »Meine besten Grüße an Ihre Familie.«
17. Kapitel
»Sie sind doch eine von den Mindhunters, oder?«
Ramsey sah von der Abschrift von Cassie Frosts Anzeige bei der Polizei zu dem jungen Polizisten aus Lisbon hinüber, der auf der anderen Seite des Tresens stand. Seinem Namensschild zufolge hieß er Joseph Redmond. Sie hätte ihren nächsten Gehaltsscheck darauf gewettet, dass man ihn Joey rief. Obwohl er fast noch wie ein Teenager wirkte, bedeutete die Tatsache, dass er hier arbeitete, dass er mindestens zwanzig sein musste. »Ich arbeite bei Raiker Forensics, ja.«
»Das dachte ich mir.« Mit geübter Geste schob er sich das weiche blonde Haar aus der Stirn, ehe er die Unterarme auf den Tresen stützte. »Ich habe die Geschichte über den Mord in Spring County verfolgt. Hab gehört, dass das TBI eine Sonderberaterin dazugeholt hat.« Er hielt erwartungsvoll inne, doch Ramsey hatte sich bereits wieder in den Polizeibericht vertieft.
»Wie sind Sie denn in diese Branche geraten?«
Sie antwortete, ohne aufzublicken. »Ich bin beim TBI gewesen, ehe Raiker mich zu einem Bewerbungsgespräch gebeten hat.« Sie registrierte die Unterschrift auf dem Bericht. »Die Aussage wurde von einem Officer Elwin Uetz aufgenommen. Ist er da? Ich würde ihn gern sprechen.«
»Nein, Elwin ist vor anderthalb Jahren in den Ruhestand gegangen. Er ist mit seiner Frau in die Ozarks gezogen, damit er das ganze Jahr über angeln kann. Aber ich kann mich erinnern, dass ich von dem Fall gehört habe.«
Man konnte die Sache kaum als »Fall« bezeichnen, da den vorliegenden Aufzeichnungen zu entnehmen war, dass kaum mehr geschehen war, als dass Cassies Aussage aufgenommen wurde. Trotzdem sah Ramsey nun fragend in das ernste Gesicht des jungen Officers.
»Die Frost war ziemlich außer sich, als Elwin bei ihr eingetroffen ist. Sie hat anscheinend gedacht, dass der Mann, der zu ihrem Fenster reingeschaut hat, derselbe wäre, der ihr schon im Ort ein paarmal aufgefallen war.« Redmond hielt kurz inne und holte Luft, wobei sein vorstehender Adamsapfel auf- und abruckte. »Der alte Elwin war der Meinung, dass ihre Angst größer war als ihre Genauigkeit. Ihre Beschreibung war keine große Hilfe. Ein großer Typ, um die sechzig, mit grauen Haaren. In Jeans und einem dunklen Hemd.« Der junge Mann zuckte die Achseln. »Der Punkt ist, dass sie es nicht genauer wissen konnte, weil der Typ, der versucht hat, durch ihr Fenster einzudringen, eine Maske vor dem Gesicht getragen hat. Außerdem ist sie aus dem Tiefschlaf hochgeschreckt, und es war dunkel und so.«
»Uetz hat also was gedacht? Dass sie alles nur geträumt hat? Dass der Typ bloß ein Spanner war?«
Der ungeduldige Unterton in ihrer Stimme ließ den jungen Officer etwas zurückweichen und sie genauer beäugen. »Nein, Ma’am, sie hat es nicht geträumt. An dem Fenster waren frische Kratzspuren. Wenn sie nicht aufgewacht wäre und die Polizei gerufen hätte, hätte derjenige es ins Haus geschafft, das steht mal fest. Anscheinend hat er das Fliegenfenster abmontiert, um reinzukommen. Sie hatte das Fenster einen Spalt nach oben geschoben, und es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, es weiter aufzuschieben und einzusteigen.«
Ramseys Haut kribbelte. Cassie Frost hatte geschlafen. War verletzlich gewesen. Aber
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