Blutnebel
zahnlückigen Schuljungen, dann zu einem Teenager, der bereits erste Anzeichen der Optik eines gefallenen Engels aufwies, bis hin zum College-Absolventen. Die schiere Anzahl der Bilder erstaunte sie. Ramsey konnte sich nicht entsinnen, dass im Lauf ihrer gesamten Kindheit mehr als drei Fotos von ihr gemacht worden wären.
Dev kehrte aus der Küche zurück und drückte ihr ein Bier, das sie nicht wollte, in die Hand.
»Ist dies das Haus Ihres Großvaters?«
»Genau. Ich habe ihn letzten Winter in eine Einrichtung für betreutes Wohnen gebracht, aber er will nichts davon hören, das Haus zu verkaufen. Es gibt ihm das Gefühl, dass er in Bezug auf seine letzten Lebensjahre noch eine Wahl hat. Ich glaube, das ist wichtig für ihn.«
Sie nippte an ihrer Flasche. »Glaub ich auch.«
Er fasste hinter sie und zog einen Stuhl vom Esstisch heran. Nachdem sie Platz genommen hatte, setzte er sich ebenfalls. »Ich war zwei, als der rote Nebel zum letzten Mal in Buffalo Springs gesichtet wurde. Natürlich kann ich mich an nichts aus dieser Nacht erinnern. Aber die Fakten, die ich seit damals gehört habe, bleiben mehr oder weniger die gleichen. Anscheinend ist ein Mädchen namens Sally Ann Porter eines Tages verschwunden. Ihre Mutter – Jessalyn – war völlig außer sich. Sally Anns Daddy war von der Bildfläche verschwunden – nach einer hässlichen Scheidung ein paar Jahre zuvor –, und Jessalyn war überzeugt, dass Sally Ann Opfer eines Verbrechens geworden war.«
Ramsey registrierte, dass er nun die Rolle des Geschichtenerzählers angenommen hatte, als könnte das einen Teil der Last von ihm nehmen, die das Erzählen einer Geschichte mit so persönlichem Inhalt barg.
Dev setzte die Flasche an die Lippen und trank einen Schluck, ehe er weitersprach. »Der Sheriff damals war der Bruder meines Vaters, Richard Rollins.«
Erstaunt fiel sie ihm ins Wort. »Aber Sie heißen doch gar nicht Rollins.«
»Meine Mutter hat zwei Jahre danach wieder geheiratet, und mein Stiefvater hat mich adoptiert.« Leichtes Unbehagen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als machte ihm die Erinnerung wenig Freude. »Onkel Rich hat versucht, Jessalyns Ängste zu lindern, da er der Ansicht war, dass Sally Ann nach New York oder Kalifornien abgehauen war. Offenbar war Sally ein freier Geist. Sie experimentierte gern mit Drogen und Männern, meistens mit beidem zugleich. Und sie sprach schon seit Jahren davon, von hier zu verschwinden. Alle, sogar ihre Freunde, glaubten, dass sie ihren Wunsch endlich wahr gemacht hatte.«
»Aber nicht ihre Mutter.«
»Nicht Jessalyn. Sie wurde immer verzweifelter, was man ihr nicht verdenken kann. Vielleicht hatte sie auch ein schlechtes Gewissen, weil sie und Sally Ann nicht besonders gut miteinander ausgekommen waren. Es waren harte Worte über Sallys Lebensstil und ihren Männergeschmack gefallen. Und da Jessalyn dafür bekannt war, dass sie jemanden nach Strich und Faden herunterputzen konnte, fingen die Leute an zu munkeln, dass sie gut verstehen könnten, warum sich das Mädchen davongemacht hatte.«
Vielleicht gewöhnte sich Ramsey langsam wieder an die Art, weitschweifig zu erzählen, denn sie verspürte beim Zuhören keinerlei Langeweile und hatte das Gefühl, dass ihr diese Geschichte weit mehr über Devlin Stryker sagen würde als sämtliche anderen Worte, die sie bisher gewechselt hatten.
Er rieb mit dem Daumen über die Kondensationsfeuchtigkeit, die sich auf der Flasche gebildet hatte. »Jessalyn wurde immer unzufriedener mit den Ermittlungen und mit der Familie Rollins an sich und wollte schließlich die Sache selbst in die Hand nehmen. Doch dabei kam nicht viel anderes heraus als eine Menge übler Tratsch. Sie hat jedem, der ihr zuhörte, erzählt, dass mein Daddy und Sally Ann eine Affäre miteinander gehabt hätten. Das hat natürlich meinen Daddy verärgert, und so hat er beschlossen, sie zur Rede zu stellen.« Er nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier und musterte sie über den Flaschenrand. Dann senkte er die Flasche wieder und sprach weiter. »Am nächsten Morgen hat man Jessalyn tot auf dem Fußboden in ihrem Schlafzimmer gefunden. Erwürgt. Und mein Daddy lag sturzbetrunken neben ihrer Leiche.«
Ein Anflug von Mitleid durchzuckte sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie man vor diesem Hintergrund jeden Sommer freiwillig hierher zurückkehren konnte. Sie selbst war in den gesamten letzten fünfzehn Jahren nur ein paar Tage in Mississippi gewesen.
»Und das hat gereicht, um ihn
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