Blutnebel
wenigen Fragen, die Ramsey gelegentlich in den ganzen Klatsch über Nellies und Devs gemeinsame Verwandte einwerfen konnte, ergab sich, dass Jenny Callison wohl recht gehabt hatte. Nellie war eher Hebamme als Kräuterheilerin, obwohl sie offenbar über eine breite Sammlung an Naturheilmitteln für alles von morgendlicher Übelkeit bis hin zu Wehenschmerzen verfügte.
Nur mit nicht mehr ganz höflichem Drängen gelang es ihr schließlich, Dev aus Nellies Haus zu lotsen, damit sie sich zu Raelynn Urdall aufmachen konnten.
Ramsey warf Dev vom Beifahrersitz aus einen verstohlenen Blick zu und suchte nach Anzeichen von Verärgerung auf seiner Miene, doch sie fand keine. »Sie hat sich nicht besonders freundlich über deine Mutter geäußert.«
Er nickte mit nachdenklicher Miene. »Sie kreidet ihr an, dass sie gleich verschwunden ist und so schnell wieder geheiratet hat. Von meinen anderen Verwandten hat sich niemand in der Richtung geäußert. Die meisten Leute haben Verständnis dafür, dass eine junge Witwe die Vergangenheit hinter sich lassen will, erst recht nach all dem, was mit meinem Vater passiert ist.« Er sah in den Spiegel und überholte einen ramponierten Pick-up, der eine wackelige Ladung Astwerk transportierte. »Ich erinnere mich dunkel daran, wie mein Großvater mal gesagt hat, dass Nellie ein Auge auf meinen Daddy geworfen hat, also muss ich berücksichtigen, wer das sagt.«
Seine Worte riefen ihr einige der Fragen in Erinnerung, die sie nach wie vor hinsichtlich des alten Polizeiberichts hatte. Da sie ihr ohnehin immer wieder durch den Kopf gingen, stellte sie sie lieber gleich. »Der Mann, der damals Polizeichef war …« Sie überlegte, bis ihr der Name einfiel. »John Kenner – lebt er noch?«
»Soweit ich weiß, wohnt er in der Hazlewood und müsste jetzt schätzungsweise Mitte siebzig sein. Er und Doc Theisen sind große Dame-Fans. Früher haben sie jeden Donnerstag gespielt.«
Sie sann darüber nach, als Dev in eine frisch gekieste Zufahrt einbog und auf das an deren Ende gelegene Haus zusteuerte. Es gab nicht den geringsten Grund zu der Annahme, dass ein Zusammenhang zwischen Jessalyn Porters Tod und dem von Cassie Frost bestand. Nicht den geringsten Grund dafür, sich einzubilden, dass ein fast dreißig Jahre alter abgeschlossener Fall irgendeine Verbindung zu dem Fall hatte, in dem sie jetzt zu ermitteln hatte.
Daher wollte sie sich Adam Raikers Reaktion nicht einmal vorstellen, wenn er erfuhr, dass sie ihn aus Gründen wieder aufzurollen gedachte, die nicht einmal bei wohlwollendster Betrachtung professionell zu nennen waren.
Immerhin arbeitete sie sechzehn Stunden am Tag, rechtfertigte sie sich innerlich, nachdem Dev vor einem dringend renovierungsbedürftigen kleinen Holzhaus haltgemacht hatte. Wenn sie eine Stunde mehr dafür opferte, Antworten auf weitere Fragen zu finden, so schmälerte das wohl kaum ihr Engagement für die aktuellen Ermittlungen. Sie gönnte sich ja nicht einmal ausreichend Schlaf.
Die neue Veranda vor dem Haus ließ den Rest des Anwesens umso schäbiger wirken. Im Garten daneben hatte eine Frau gebückt gearbeitet, die sich bei ihrer Ankunft erhoben und die Gartenhandschuhe abgestreift hatte und nun eine Hand gegen die Sonne über die Augen hielt, während sie die beiden musterte.
»Hallo, Mrs Urdall. Ich bin Devlin Stryker.« So lässig wie ein Urlauber auf der Strandpromenade schlenderte Dev mit offenem Lächeln im Gesicht zu der Frau hinüber. »Sie erinnern sich vielleicht nicht an mich, aber ich habe in unserem ersten Jahr an der Uni das Zimmer neben Tad gehabt.«
»Ich erinnere mich.« Ohne Devs Lächeln zu erwidern, nickte die Frau zu Ramsey hin. »An Sie erinnere ich mich auch. Ich hab Ihnen gestern schon erklärt, dass ich Ihnen nichts zu sagen habe. Das hat sich nicht geändert.«
Hier steckte mehr dahinter, viel mehr als nur Argwohn gegenüber Fremden. Die Abneigung der Frau war fast mit Händen zu greifen. Ramsey ging rasch die Möglichkeiten durch und kam zu dem Schluss, dass Raelynn Urdall aus welchem Grund auch immer keine Cops mochte.
»Ich hab Tad schon … ziemlich lange nicht mehr gesehen.« Dev kratzte sich am Kinn und blinzelte aus schmalen Augen in die Sonne. »Schon an die zwei Jahre.«
Auf Raelynns faltigem, von der Sonne gebräuntem Gesicht zeichnete sich Erstaunen ab. »Du hast Tad vor zwei Jahren gesehen?«
»Ich melde mich regelmäßig bei ihm, wenn ich in New York bin und meinen Verleger treffe. Letztes Frühjahr hat er nicht
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