Blutportale
erhalten. Die leuchtend weißen Skulpturen, das blitzende Gold überall, die hellblauen Polster und Gardinen machten das Mariinski zu einer Art kleiner Zeitmaschine. Wenn er zur Zarenloge hinaufsah, rechnete er fast damit, jeden Moment einen der glorreichen Herrscher aus der Vergangenheit dort zu erblicken. Er selbst würde auch sehr gut in diese Loge passen, dachte er. Eines Tages, am Ende einer seiner Arien, würden sie ihn freiwillig dorthin tragen und ihm huldigen.
Manche behaupteten, es sei der romantischste Theatersaal der Welt. Für Smolska war er weit mehr als das.
Jetzt stand der Höhepunkt an: Sussanin würde den polnischen Feinden ihre Täuschung eingestehen und nach einem langen Zweikampf mit dem Anführer sein Leben verlieren. Ein Leben für den Zaren.
Smolska zog den stumpfen Säbel, sein Blick richtete sich ein letztes Mal auf die prächtige dreistufige Deckenleuchte in Form der Monomachkrone der russischen Monarchen, die unter der italienisch gestalteten Decke schwebte. Tausend Kristallhängeleuchten glänzten und funkelten daran. Wenn nun noch die Besucher andere Kleidung trügen, wäre die Illusion, sich in einem anderen Jahrhundert zu befinden, perfekt.
Wie gern hätte er zu dieser Zeit gelebt, als gefeierter Bass und hochbezahlt. Nicht wie heute. Aber noch viel lieber wäre er an einem anderen, weit entfernten Ort...
Smolska überprüfte die Spitze seiner Theaterklinge, die sich bei leichtem Druck einzog und federte. Er dachte an die guten alten Errol-Flynn-Streifen, in denen sie ebenso gekämpft hatten wie er: heroisch, fürs Auge und abseits vom echten Degen oder Säbelkampf, den er in seiner Freizeit praktizierte. Doch dem Publikum gefiel es. Sein Einsatz kam. Es war an der Zeit, dem Volk einen wahren König zu zeigen. Smolska schritt aus seinem Versteck, ganz langsam und getragen. Der Spot beleuchtete ihn, und sofort brandete ekstatischer Zwischenapplaus auf. So etwas hatte es in einem Theater noch niemals gegeben. Er genoss es, lächelte dem Publikum zu, freundlich, doch selbstherrlich, wie es sich für ihn gehörte, ehe er mit seinem Spiel begann.
Smolska lief vor dem Kulissen-Unterholz hin und her, bedachte die polnischen Kämpfer mit Beschimpfungen und sang dann sein Gänsehaut erzeugendes Loblied auf Russland und den Zaren, während die Musiker im Orchestergraben dazu aufspielten und die Lautstärke immer weiter anschwellen ließen; aufnehmen konnten sie es mit ihm und seiner bombastischen Stimme nicht. Smolska war immer zu hören und dominierte alles. Er war ein Souverän. Laut Regieanweisung stand jetzt das Gefecht gegen mehrere Gegner an, das für Sussanin zunächst siegreich verlaufen sollte. Smolska legte los und sprang den ersten falschen Polen an, von dem er wusste, dass er Paranov hieß und aus Moskau stammte. Er sang konzentriert und plänkelte mit seinem Gegner zwischen den falschen Bäumen herum, bis er Paranov den Todesstoß versetzte und sich dem nächsten Feind zuwandte.
Atemlos vor Glück, verfolgte das Publikum Gesang und Gefecht.
Smolska schaute über die Schulter und eilte seinem zweiten Feind entgegen. Sein Kontrahent war viel schneller als erwartet heran. Das Klingenkreuzen begann, während Smolska sang ... und nach dem zweiten Schlag realisierte: Die zustoßende, peitschende Dreikantklinge seines Gegners war solide und ohne einfahrende Spitze! Außerdem lag die Geschwindigkeit der Hiebe bei weitem über der eines Bühnengefechts. »Sie hätten die Forderung nicht zurückziehen sollen«, raunte ihm sein Gegner unerwartet zu. Trotz der Musik und des Gesangs verstand Smolska ihn sehr deutlich. Das Gesicht unter dem Schlapphut und dem falschen Bart kannte er nicht, aber die Frage des Mannes erklärte, um wen es sich handelte. »Sie wagen es, mich in meinem Reich herauszufordern?«, gab er während einer kurzen Pause im Lied so zurück, dass nur sein Gegner ihn hören konnte. Noch unterbrach er sein Spiel nicht für eine Sekunde; das hätte dem anderen das Gefühl geben können, dass er Angst hatte. Und allein dieses Wort existierte für ein Wesen wie Smolska nicht.
»Es macht Ihnen doch sicher nichts aus, wenn wir unser Gefecht auf der Bühne nachholen?«, wisperte der Mann und langte mit der anderen Hand auf den Rücken, um einen zweiten Degen zu ziehen und ihn Smolska zuzuwerfen. »Sich vor Publikum zu duellieren, ist mir eine willkommene Abwechslung.«
Smolska fing die Waffe. Die Forderung hatte er auf Anraten seines besten Freundes zurückgezogen. Dieser
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