Blutrose
Zeit niemand auf dem Revier sein.«
»Haben Sie mit Captain Faizal gesprochen?«, fragte Clare. »Ich dachte, er hätte mit Ihnen vereinbart, gemeinsam ins Kuiseb-Delta zu fahren.«
»Zu mir hat er nichts gesagt.«
»Ich kann ihn nicht erreichen«, sagte Clare.
»Ich hoffe nur, dass er nicht allein rausgefahren ist. Auf der Karte sieht es ganz einfach aus, aber wenn man erst in der Wüste ist, ist die Karte nicht mehr zu gebrauchen, schon gar nicht bei diesem Ostwind.«
»Verlassen Sie sich nicht darauf, Elias.« Clare kannte Riedwaan
viel zu gut, als dass sie davon ausging, er würde sich vernünftig verhalten. Sie probierte noch einmal, ihn anzurufen. »Der Teilnehmer ist derzeit nicht erreichbar«, sagte die elektronische Stimme. »Bitte versuchen Sie es später noch einmal.«
»Ich muss schon das Meer absuchen«, fluchte Karamata. »Eine Suchaktion in der Wüste während eines Sandsturms hat mir gerade noch gefehlt.«
Mit aller Willenskraft, die sie aufzubringen vermochte, unterdrückte Clare ihre Angst um Riedwaan. »Sie haben mit Gretchen gesprochen, nehme ich an?«, fragte sie.
»Allerdings«, antwortete Karamata. »Wenigstens telefonisch. Sie meinte, sie sei im Bad gewesen, als Oscar aus dem Haus ging.«
»So höflich hat sie sich ausgedrückt?« Clare zog eine Braue hoch.
»Ehrlich gesagt nein. Sie meinte, ich könne sie am Arsch lecken, sie habe nichts mit ihm zu schaffen und was Besseres zu tun, als auf ihn aufzupassen.«
»Charmant.« Clare sah hinaus auf die kabbelige See. »Ein kleiner Junge, der mutterseelenallein angeln gehen wollte.«
»Ein Kind, das zu niemandem gehört«, sagte Karamata. »Es gibt hier so viele davon, und nicht alle sind arm.«
»Wer kommt an diesen Strand, Elias?«
»Die Chinesen kommen zum Angeln her. Pärchen, die sonst nirgendwohin können. Kinder angeln auch hier. Sonst ist hier eigentlich niemand.« Karamatas Handy klingelte. »Ich muss los und mit den Tauchern sprechen. Sie sind da.«
Clare kletterte vor bis zu den letzten Felsen auf der kleinen Landzunge, die den Hafen schützte, und schaute von dort auf den Strand, wo Oscar seine Angelrute und sein spärliches Picknick zurückgelassen hatte. Müll trieb vor der kleinen Bucht und drückte gegen das künstlich aufgeschüttete Kap, auf dem sie stand. Der erste Taucher klatschte von dem schaukelnden
Rettungsschiff. Falls der Junge ertrunken war, musste sein Leichnam nach unten gezogen und hier an diesen Felsen wieder hochgespült worden sein. Sie machte sich auf den Rückweg, mit klopfendem Herzen, als sie einen roten Fleck ausmachte, doch es war nur ein altes T-Shirt.
Eine Welle überspülte den Strand und löschte alle Spuren von Oscar und denjenigen aus, die nach ihm suchten. In einer halben Stunde hätte niemand mehr feststellen können, wo er gestanden und seine Angel ausgeworfen hatte. Clare sah vom Strand zur Straße hinüber. Der Sand hinter Oscars Sachen war noch nicht vom Wasser geglättet. Sie ging auf seinen letzten bekannten Aufenthaltsort zu. Mehrere Muschelschalen lagen zersplittert im aufgewühlten Sand. Es sah so aus, als hätte genau hinter der Stelle, an der Oscar gestanden hatte, ein Fahrzeug angehalten. Angehalten, und dann rückwärts auf die Straße zurückgesetzt.
Clare hob eine Muschelscherbe auf.
Oscar war bestimmt nicht schwimmen gegangen, und er war auch nicht ins Wasser gefallen. Hier würden sie Oscar nicht finden. Sie spürte das mit eisiger Gewissheit. Jemand hatte ihn mitgenommen und woandershin gebracht. Jemand, dem er gehorchen musste. Clare dachte an die Porträts in ihrer Galerie. Alle waren sie aus dem Leben geglitten, ohne auch nur die leiseste Welle zu schlagen.
Fritz Woestyn.
Nicanor Jones.
Kaiser Apollis.
Lazarus Beukes.
Mara Thomson. Ein Mädchen, aber den Jungen so ähnlich. Die Schlankheit der Glieder, die braune Haut, das flächige, kantige Gesicht.
Und jetzt Oscar.
Die Coda zu dieser Sinfonie des Schmerzes. Klein, rothaarig, bleich … Ein Missklang.
Clare ließ den Kopf sinken und versuchte, in die durchscheinende Haut des Jungen zu schlüpfen, über der in ihrem Geist die Silhouette des Bösen Gestalt anzunehmen begann. Sie sah vor sich, wie er Mara beim Packen zuschaute, wie er sein erneut gebrochenes Herz umklammerte, wie er diesen neuerlichen Verlust wegschloss, so wie er den Verlust seiner Mutter weggeschlossen hatte. Und dann, noch vor der vorbestimmten, gefürchteten Ankunft des Taxis, vor dem letzten hektischen Zusammenpacken und Verabschieden,
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