Blutrot wie die Wahrheit
ihre Richtung, hielt sich schützend die Hand über die Augen und winkte ihnen dann zu. Nell hatte sich insgeheim gefragt, ob sie ihn wohl hier treffen würden, denn wenngleich dies ihr und Wills erster Besuch von Virginia Kimballs letzter Ruhestätte war, so wusste sie doch, dass Thurston auch noch sechs Wochen nach der Beerdigung fast täglich an ihr Grab kam.
âWürdest du die wohl für mich tragen?â, fragte Will Gracie, als er seine mitgebrachten Blumen aufhob, die während der Fahrt am Boden des Lakaiensitzes gelegen hatten.
Gracies Augen wurden ganz groÃ, als sie den Strauà entgegennahm, der wirklich riesig war und mit einem karminroten Band zusammengehalten wurde. âOh, sind die schön!â, rief sie. âDas ist das Schönste, was ich jemals gesehen habe!â
Sie trafen Thurston auf halber Höhe des Weges, der zum Hauptportal führte. Thurston zog seinen Hut vor Nell und Gracie und fragte: âUnd wer ist denn diese reizende junge Dame?â
âGrace Elizabeth Lindleigh Hewittâ, sagte Gracie.
âSagtest du Hewitt? Eine Verwandte von Ihnen?â, wandte er sich an Will.
âSie ist meine â¦â Will zögerte, hatte er es doch noch nie gemocht, die Unwahrheit zu sagen, zumal den Menschen gegenüber, denen er in aufrichtiger Freundschaft verbunden war. Und Thurstons Freundschaft mit Nell und Will war an jenem Tag besiegelt worden, da sie ihm das Rote Buch gegeben hatten â eine Geste der Zuneigung und des Vertrauens, die ihn zu Tränen gerührt hatte. Seitdem hatten sie einander regelmäÃig gesehen.
âGracie ist die Adoptivtochter seiner Mutterâ, erklärte nun Nell; es war die Wahrheit, wenngleich eine unbestimmte und lückenhafte Variante der Wahrheit. âUnd ich bin ihre Gouvernante.â
âWelch eine beneidenswerte Aufgabeâ, befand Thurston. Der Dramatiker beugte sich zu Gracie hinab und meinte: âDa haben Sie aber einen ganz schön groÃen BlumenstrauÃ, Miss Hewitt.â
âDer ist für die Dame, die jetzt im Himmel istâ, erwiderte Gracie.
Thurston presste sich die Hand auf den Steià und richtete sich langsam wieder auf. Die kindlich unbekümmerte ÃuÃerung entlockte ihm ein Lächeln. âWelch eine aufmerksame Geste.â An Nell und Will gewandt meinte er: âDas Grabmal steht jetzt.â
âWie schön. Wir sind schon sehr gespannt daraufâ, sagte Nell. Thurston hatte Orville Pratt der Verantwortung enthoben, einen Gedenkstein für Mrs. Kimball in Auftrag zu geben, und Mr. Pratt hatte sich seiner Pflicht geradezu freudig entledigt.
âJa, sagen Sie mal, Hewittâ, rief Thurston nun aus. âEin richtig flottes Halstuch haben Sie da â wirklich sehr flott. Wie schön, dass auch Sie mal ein wenig Stil zeigen.â
âÃh ⦠dankeâ, sagte Will und rückte das gelb und orange gestreifte Seidentuch zurecht, das er um den Hals gebunden trug.
âDas habâ ich ihm gemachtâ, verkündete Gracie stolz. âZu seinem Geburtstag. Und Miss Sweeney hat ein Bild von mir gemalt und es in einen goldenen Rahmen getan und es ihm für sein neues Haus geschenkt.â
âSehr schönâ, lobte Thurston. âJa, wann hatten Sie denn Geburtstag, alter Junge, und warum habe ich nichts davon erfahren?â
Nell antwortete für Will: âGestern â aber er wollte kein Aufhebens darum machen.â
âUnd so kam esâ, meinte Will, âdass diese beiden unverschämten Damen sich meinen Wünschen widersetzt und sich einfach erdreistet haben, ein viel zu üppiges Geburtstagsessen in meiner nagelneuen Küche zuzubereiten.â
âWir mussten sogar unsere Töpfe und Pfannen mitbringen!â, rief Gracie vergnügt. âWeil Onkel Will nämlich keine hat, und wir haben auf einer Decke im Garten gegessen, weil er auch keinen Tisch im Speisezimmer hat, und keine Stühle hat er auch nicht.â
âUnd auch keine Stühle hatâ, sagte Nell.
âUnd auch keine Stühle hat. Aber wir haben Kerzen und Blumen auf die Decke gestellt, ganz so wie auf einen Tisch, und es sah ganz, ganz schön aus, als die Sonne untergegangen ist.â Gracie hüpfte auf und ab, wie sie es meist machte, wenn sie aufgeregt war. âMiss Sweeney hat Austernsuppe und Blaubarsch gemacht und Rinderfleisch mit Pilzen und Apfelkrapfen â für mich, weil ich die ganz doll
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