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Blutrot wie die Wahrheit

Blutrot wie die Wahrheit

Titel: Blutrot wie die Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P.B. RYAN
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sie ein Kind erwartete. Sie nahm an, dass ihr Vater sie gewiss zu Tode prügeln würde, wenn er davon erfuhr. Und so leerte sie eines Sonntags nach der Kollekte den Korb in ihre Geldbörse und kaufte sich eine Zugfahrkarte nach New York. Dort hat sie auch am Theater angefangen – na ja, billige Boulevardbühnen, aber es machte ihr Spaß, und sie war wirklich ein Naturtalent. Einmal bemerkte sie, stets ihren Vater auf der Kanzel grollen und geifern gesehen zu haben, müsse wohl eine gute Schule des Burlesken gewesen sein.“
    â€žUnd das Kind?“, fragte Nell.
    Thurston schüttelte bedauerlich den Kopf. „Ein Junge, aber die Cholera raffte ihn dahin, als er noch ganz klein war – jene schreckliche Epidemie damals, 1832.“
    â€žOh nein, wie furchtbar!“
    â€žVirginia gelang der Durchbruch ins seriöse Fach“, fuhr Thurston fort. „Sie lernte ihr Handwerk, und sie war sehr gut darin. Zu dem Zeitpunkt, da sie nach Boston kam, war sie bereits eine der Besten.“
    â€žIch wünschte, du hättest sie jemals auf der Bühne sehen können“, meinte Will zu Nell. „Sie war wirklich großartig.“
    â€žEinmal habe ich sie gefragt, ob sie mich heiraten wolle“, sagte Thurston da.
    Recht verdutzt sahen Nell und Will ihn an.
    â€žAber sie hat nur gelacht, natürlich, und ich habe so getan, als sei es nur ein Witz gewesen. Aber das war es nicht – keineswegs. Virginia Kimball war die einzige Frau, die ich je geliebt habe.“
    Darauf wusste Nell nun gar nichts zu sagen. Aus Wills ehrlich erstaunter Miene schloss sie, dass es ihm wohl ebenso erging.
    â€žMiss Sweeney …“ Thurston zog seinen Hut und verneigte sich galant. „Ich meinte es ernst, als ich sagte, ich würde Sie vermissen. Hewitt …“ Er streckte Will die Hand entgegen. „Wir sind ja jetzt Nachbarn. Und natürlich erwarte ich, Sie nun häufiger zu Gesicht zu bekommen.“
    â€žDas werden Sie.“
    Thurston rief Gracie auf Wiedersehen zu, woraufhin sie angerannt kam und ihn zum Abschied umarmte. Er erwiderte die Umarmung, sichtlich von Gefühlen überwältigt, und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor er dann schließlich aufbrach.
    â€žDas verstehe ich nicht …“, meinte Nell, als sie ihm hinterherschauten, wie er etwas beschwerlich zu seiner wartenden Kutsche hinüberging.
    â€žDass er Mrs. Kimball heiraten wollte?“
    â€žJa. Er … ich meine, Männer wie er … fühlen sie sich denn nicht nur zu anderen Männern hingezogen?“
    â€žDie Liebe kann ein sehr launisches Geschöpf sein. Sie fällt nicht immer dorthin, wo sie hinfallen sollte, und macht auch keineswegs nur das, was wir von ihr erwarten.“ Damit nahm er sie beim Arm und führte sie durch das Hauptportal, derweil Gracie vergnügt vor ihnen herhüpfte.
    ICH BIN DIE AUFERSTEHUNG UND DAS LEBEN stand in goldenen Lettern auf dem Torbogen, was Nell an Vera denken ließ, wie sie in jener Nacht, da sie das Rote Buch in ihrem Zimmer gefunden hatten, von ihrer – oder besser gesagt von Virginia Kimballs – „wundersamen Auferstehung“ gesprochen hatte. Seit sie verhaftet und des Doppelmordes angeklagt worden war, hatte Vera stur an ihrer Überzeugung festgehalten, Mrs. Kimball zu sein, womit ihr ein Freispruch aufgrund geistiger Verwirrtheit gewiss sein dürfte – was indes nicht hieß, dass sie jemals wieder in Freiheit würde leben können. Zumindest nicht in einer Freiheit, wie die beiden von ihr ermordeten Frauen sie verstanden hatten. Die sechs Wochen, die sie bislang im Massachusetts General Hospital verbracht hatte, würden wohl nur der Anfang eines längeren, vielleicht gar lebenslangen Aufenthaltes in der Klinik sein. Doch laut Emily, die ihre Tante regelmäßig besuchte, war es eigentlich gar kein so schlechtes Leben. Die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses war eine der fortschrittlichsten im ganzen Land, und Orville Pratt scheute wahrlich keine Kosten: Seine Schwester hatte ein großes, schön ausgestattetes Zimmer samt eigener Pflegerin, bester Verpflegung, Büchern und Zeitschriften, Aquarellfarben, einem Schachspiel, einem Klavier – wonach immer ihr der Sinn stand, um sich zu vergnügen. Und seit Vera Pratt ihre neue glamouröse Persönlichkeit angenommen hatte, herrschte sie wie eine Königin über den Flügel, in dem sie untergebracht war

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