Blutrot wie die Wahrheit

Stadt und gern bereit, der Polizei zu helfen!“
    Wortlos trug Cook die beiden Kartons hinüber in sein Büro und stellte sie auf dem einzigen Fleck ab, wo der Boden nicht mit Büchern, Aktenordnern und alten Zeitungen bedeckt war. Nell kniete sich daneben und nahm den Deckel von dem mit V. KIMBALL beschrifteten Karton, legte Handschuhe und Bandeau beiseite und holte ein gehäkeltes Retikül hervor, das ein ordentlich gefaltetes Taschentuch enthielt, eine silberne Puderdose und ein emailliertes Döschen für Rouge, ein perlmuttes Etui mit einigen Visitenkarten darin und eine Geldbörse aus geprägtem Leder, die allerdings leer war.
    â€žSieht so aus, als hätte Skinner sich auch hier schon bedient“, meinte sie.
    â€žKönnte aber auch sein, dass sie bei ihren Einkäufen alles ausgegeben hat“, gab Cook zu bedenken, der an seinen Schreibtisch gelehnt dastand und sie beobachte. „Oder vielleicht hatte sie ja gar kein Geld dabei und sich alles anschreiben lassen.“
    â€žIch gehe aber sicher richtig in der Annahme, dass Detective Skinner den Schlüssel zu ihrem Haus hat.“
    Cook nickte. „Hängt an so ’nem schicken silbernen Schlüsselring, den er jetzt immer in seiner Westentasche mit sich herumträgt.“
    Es folgten zwei weiße Baumwollstrümpfe, ein Strumpfhalter, eine spitzenbesetzte Unterhose, zwei Unterröcke und eine zerknautschte stahlgerippte Krinoline. Als Nell zu Mrs. Kimballs restlichen Unterkleidern gelangte, musste sie erst einmal tief durchatmen. Chemise, Korsett und Leibchen starrten von getrocknetem Blut und wiesen allesamt auf der linken Seite ein kleines, scharf umrissenes Loch auf, ebenso das Oberteil des sehr modischen, blau-weiß gestreiften Kleides. Ganz unten im Karton fand Nell einen mit Rüschen besetzten Seidenschirm, ein Paar schwarze Seidenstiefeletten mit silbernen Absätzen und aufgenähten Sternen sowie ein Knäuel ineinander verhedderter Diamantketten.
    Sie hob den Schmuck hoch und betrachtete blinzelnd die im Licht hell funkelnden Steine. „Und das sollen bloß Imitate sein?“
    â€žMüssen wohl“, meinte Cook. „Ich kann den Unterschied aber nicht erkennen.“
    â€žIch auch nicht.“
    â€žUnd Fiona Gannon wohl auch nicht, könnte ich mir vorstellen.“
    Diese Bemerkung überhörte Nell geflissentlich und wandte sich dem mit F. GANNON beschrifteten Karton zu, der ein schlichtes Kleid aus schwarzem Webstoff enthielt, eine mit Blutspritzern übersäte weiße Baumwollschürze, eine Garnitur recht schäbiger Unterkleider, abgestoßene schwarze Schnürstiefel und, ganz unten vergraben, die Überreste einer berüschten Haube. Mit spitzen Fingern fasste Nell sie vorsichtig an dem einzigen noch weißen und unversehrten Zipfel – das Linnen war nämlich nicht nur mit Blut besudelt, sondern auch rußgeschwärzt – und hielt sie in die Höhe.
    â€žPulverspuren“, murmelte sie. „Ziemlich deutliche Pulverspuren sogar. Und völlig zerfetzt ist sie auch.“
    Cook streckte die Hand danach aus.
    â€žSie wissen, was das bedeutet“, sagte sie.
    Seufzend begutachtete nun auch er die traurigen Überreste der Dienstmädchenhaube.
    â€žEs bedeutet“, fuhr Nell fort, „dass die Mündung der Pistole, mit der Fiona Gannon ermordet wurde …“
    â€žâ€¦ direkt an ihrer Schläfe aufgesetzt war“, beendete Cook ihren Satz. „Und woher weiß eine so nette junge Dame wie Sie derlei Dinge?“
    â€žAus Büchern“, log sie rasch und ohne mit der Wimper zu zucken, denn sie wollte nicht, dass er auch nur ahnte, wie vertraut sie selbst einst mit Pistolen und Messern gewesen war – und auch damit, welchen Schaden solche Waffen anrichten konnten. „Sagen Sie mir ruhig, dass ich mich täusche“, forderte sie ihn heraus. „Sagen Sie schon, dass dieser Schuss aus einiger Entfernung abgegeben worden ist und die Geschworenen mit ihrem Urteil recht haben.“
    Schweigend untersuchte Cook die Haube und sah dabei recht mürrisch drein.
    â€žIn seiner Aussage hat Baldwin diese Pulverspuren mit keinem Wort erwähnt“, stellte Nell fest. „Er hat es nicht getan, weil es die offizielle Lösung des Falls in Frage gestellt hätte.“
    Cook sah aus, als wolle er etwas sagen, überlegte es sich dann aber doch anders. Er hockte sich neben Nell, legte die Haube